Bevor der Morgen graut
Nähe stand. Er hielt sich die Hände vors Gesicht, stand offensichtlich unter Schock und konnte vor Zittern kaum sprechen. Ein Polizist aus Borgarnes saß am Steuer des Autos und versuchte, den Mann zu beruhigen, schien aber damit keinen Erfolg zu haben.
»Der Ganter kommt in Übung«, sagte Gunnar zu Birkir. »Nur ein Schuss, der den Gegner sofort niederstreckt. Kein Schusswechsel und keine Verfolgungsjagd.«
Birkir schaute über die Schulter zurück zum Streifenwagen. »Willst du mit dem Zeugen reden?«, fragte er.
»Ja, ich kümmere mich darum«, antwortete Gunnar.
»Jetzt gleich?«, fragte Birkir.
»Ja, das ist wohl am besten«, sagte Gunnar. »Es ist bestimmt interessant zu hören, wie er den Hergang beschreibt. Auf diese Weise erfahren wir jetzt vielleicht mehr darüber, mit wem wir es zu tun haben.«
Gunnar ging zum Streifenwagen und setzte sich hinten ins Auto neben den Zeugen.
»Guten Morgen«, sagte Gunnar und nickte dem Polizisten vorne zu.
»Guten Morgen«, antwortete der Polizist, während der Mann auf dem Rücksitz nur nickte.
Gunnar betrachtete den Mann eingehend. Er war klein undschmächtig, hatte einen gepflegten Schnurrbart und trug eine runde Brille. Im Grunde genommen überhaupt kein Typ, von dem man glauben würde, dass er auf die Jagd ging, und erst recht nicht jetzt, wo ein gefährlicher Mörder, der es auf Gänsejäger abgesehen hatte, sein Unwesen trieb. Der Mann trug einen der üblichen Camo-Overalls, der aber viel zu groß für ihn zu sein schien.
Gunnar stellte sich vor und streckte seine Hand aus: »Gunnar Maríuson, Kriminalpolizei.«
Der andere ergriff Gunnars Hand, drückte sie kraftlos und sagte: »Mein Name ist Ragnar Jónsson.« Bei diesen Worten schien ein Damm in ihm zu brechen, denn auf einmal sprudelte es nur so aus ihm heraus: »Ich habe meinem Schwiegervater gesagt, dass wir auf keinen Fall auf die Jagd gehen sollten, das sei viel zu riskant. Aber er war nicht davon abzubringen, und deswegen musste ich einfach mit. Und dann ist es auf einmal passiert, und ich konnte überhaupt nichts tun, gar nichts.« Der Mann sprach so schnell, dass er ganz außer Atem war. Er war schon ganz rot im Gesicht, als er endlich verstummte und tief Luft holte.
Gunnar zog ein Notizbuch und einen Kugelschreiber aus einer Brusttasche. »Der Verstorbene war also dein Schwiegervater?«
»Ja. Bára und ich, wir sind verheiratet. Bára ist seine Tochter und meine Frau.«
»Wie heißt er?«
»Er heißt, er hieß, meine ich …« Wieder holte der Mann tief Luft, bevor er fortfuhr: »Vilhjálmur Arason. Er besitzt, ich meine, er besaß früher eine kleine Reederei.«
Gunnar sagte besänftigend: »Ganz ruhig bleiben, mein Lieber. Ich muss die Geschichte von Anfang an hören, und zwar jede Einzelheit. Jetzt beruhige dich erst mal. Wann habt ihr euch entschlossen, diesen Jagdausflug zu machen?«
Der Mann hörte auf Gunnars Rat und atmete ein paar Mal tief durch, bevor er antwortete: »Wir sind seit 1992 immer an diesem Wochenende auf die Jagd gegangen. 2001 mussten wir es allerdings wegen schlechten Wetters verschieben, da war ein derartiger Sturm, dass man nicht aufrecht stehen konnte. Ansonsten ist es immer an diesem Sonntag gewesen.«
»Es war also heute alles wie immer?«
»Alles genau wie immer. Schon vor einem halben Monat hat mein Schwiegervater angefangen, darüber zu reden und die Fahrt vorzubereiten. Und er wollte absolut nichts davon hören, das Ganze wegen dieser Morde abzublasen. Er hatte die Jagderlaubnis von dem Bauern bekommen, dem das Land gehört. Sie sind gute Bekannte … waren gute Bekannte, meine ich.«
»Gehst du häufig auf Gänsejagd?«
»Nein, nein, immer nur auf diesen einzigen Jagdausflug jeden Herbst. Mein Schwiegervater jagt viel öfter, aber er ist auch pensioniert.«
»Wo wohnt ihr?«
»In Reykjavík.«
»Wann seid ihr heute Morgen losgefahren?«
»Kurz nach vier, glaube ich.«
»Habt ihr tanken müssen?«
»Nein, der Tank war voll.«
»Wer von euch ist gefahren?«
»Ich war am Steuer, aber das Auto gehört meinem Schwiegervater.«
»Ist euch jemand gefolgt?«
»Nein, das denke ich nicht. Glaubst du, dass jemand uns gefolgt ist? Kann das sein?«
Gunnar ging nicht auf diese Frage ein, sondern fuhr fort: »Wurdet ihr unterwegs von der Polizei angehalten?«
»Nein, natürlich nicht. Ich bin nicht besonders schnell gefahren.«
»Wann seid ihr hier angekommen?«
»Kurz vor sechs.«
»Und was passierte dann?«
»Wir hatten gerade alles ausgepackt,
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