Bevor der Morgen graut

hatte herausgefunden, dass die Eheleute sich scheiden lassen wollten, indem sie im Umkreis der Familie ein paar gezielte Fragen stellte. Birkir hatte aber auf einer der Lagebesprechungen ein ganz anderes Bild von der Witwe entworfen, als sie sich selber beim ersten Besuch gemacht hatte. Es war wahrscheinlich nicht unvernünftig, diese Leute weiterhin im Auge zu behalten.
    Ein uniformierter Polizist erschien um halb elf mit einem Päckchen, das an Birkir adressiert war. Dóra quittierte den Empfang, rief Birkir an und erhielt sein Einverständnis, es zu öffnen. Es handelte sich um eine DVD mit den Aufzeichnungen vom Hvalfjörður-Tunnel.

Montag, 25. September

09:30
    U m neun Uhr fand erneut eine Besprechung des Ermittlungsteams statt, um die Aufgabenverteilung für Magnús, Gunnar, Birkir und Dóra festzulegen. Magnús notierte sich die einzelnen Punkte.
    Erster Punkt: Aufzeichnungen des Kontrollsystems am Hvalfjörður-Tunnel. Dóra hatte die Autos der beiden Opfer ausmachen können, Ólafur hatte am Donnerstag um 4:21 Uhr und Vilhjálmur am Sonntag um 4:34 Uhr den Tunnel passiert. Sie hatte die Kennzeichen aller Autos, die in der darauf folgenden halben Stunde durchgefahren waren, aufgeschrieben. Das Verkehrsaufkommen war zwar recht gering um diese Tageszeit, aber einige Autos waren doch unterwegs gewesen, und ein Motorrad. Das Nummernschild des Motorrads war nicht zu erkennen, man sah jedoch, dass der Fahrer einen dunklen Lederanzug und einen weißen Helm trug. Er schien nichts dabeizuhaben, was einer Schrotflinte glich, aber trotzdem musste dieser Mensch gefunden werden, wie auch immer das zu bewerkstelligen war. Genauso mussten all die anderen Autofahrer befragt werden, weshalb sie dort unterwegs gewesen waren, aber das war verhältnismäßig einfach, da die Nummernschilder deutlich zu erkennen waren. Damit wurde Símon beauftragt.
    Zweiter Punkt: nachhaken beim Zeugen im Mordfall Vilhjálmur Arason. Schwiegersohn Ragnar bitten, eine Namensliste mit Angehörigen, Freunden und so weiter anzufertigen. Außerdem genauer auf die Details beim Tathergang eingehen, wenn er sich wieder gefangen hat. Diese Aufgabe übernahm Birkir.
    Plötzlich gab es eine unerwartete Störung. »Entschuldige, Magnús, aber was soll ich eigentlich mit so etwas hier anfangen?« Ein schlanker Mann um die sechzig stürzte in den Konferenzraum, in der einen Hand hielt er einen braunen Umschlag und in der anderen ein Blatt Papier. »So was kann ich nicht in die Datenbank einlesen, da fehlen ja sämtliche Informationen«, fuhr er fort. »Zu welchem Fall gehört das eigentlich?«
    »Wir sind hier in einer Besprechung«, entgegnete Magnús.
    »Ja, ja, ihr seid in einer Besprechung, und dann schickt ihr mir so ein Zeug in die Dokumentationsstelle, und ich soll wohl einfach mit hellseherischer Eingebung spüren, was ich damit machen soll?«
    »Von was für einem Zeug redest du eigentlich?«, fragte Magnús. »Ich habe überhaupt nichts an dich weitergeleitet, jedenfalls nicht in der letzten Zeit.«
    Der Mann warf den Umschlag und das Blatt auf den Tisch. Auf dem Umschlag stand Kriminalpolizei, Abteilung für Kapitalverbrechen, und darunter mit anderer Schrift und anderem Stift Dokumentationsstelle.
    »Ich hab das nicht an euch geschickt«, erklärte Magnús.
    Auf dem Papier standen folgende Worte: Montag, 25. September, 10 Uhr. – [email protected]. – Passwort: shotgun 123. Diese E-Mail-Adresse sagte ihnen gar nichts, aber das, was an das Papier angeheftet war, zog ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich. Es handelte sich um zwei Stückchen Stoff mit Camouflage-Muster und rostbraunen Flecken.
    »Wo ist Anna?«, fragte Magnús.
    »Im Labor«, entgegnete Dóra.
    Magnús nahm das Blatt Papier vorsichtig in die Hand, stand auf und marschierte aus dem Zimmer. Die anderen folgten ihm. Der Leiter der Dokumentationsstelle blieb allein zurück.
    »Was geht hier eigentlich vor?«, wunderte er sich.

09:50
    I m Norden Islands, genauer gesagt im Þingeyjar-Bezirk, herrschte an diesem Morgen durchaus passables Wetter, es war bedeckt und trocken bei leichtem Nordwind. Die Temperaturen lagen knapp über null. Auf einer kahlen, flachen Erhebung an der westlichen Offroad-Piste zum Dettifoss, etwas nördlich der Ringstraße Nr. 1, hob ein Bagger eine Grube aus. Neben dem Bagger stand im Windschatten eines alten Landrovers ein schlanker Mann in lammfellgefüttertem Anorak und mit einer Strickmütze auf dem Kopf. Er stützte sich auf einen Spaten und