Bevor der Morgen graut
gewesen, und sie hatte bereits drei ihrer Geschwister verloren. Der älteste Bruder ging mit einem Garnelenkutter im Ísafjarðardjúp unter, ein anderer kam bei einem Lawinenunglück in Flateyri ums Leben, und die zweitjüngste Schwester starb bei einem Autounfall. Dóra hatte ebenfalls in dem Autogesessen, und die Narbe an der Schläfe hatte sie davon zurückbehalten. Die seelische Narbe war jedoch wesentlich schlimmer.
Dóra besuchte das Gymnasium in Ísafjörður, und nach dem Abitur zog sie mit ihrem Freund nach Reykjavík. Er studierte Wirtschaftswissenschaften, und sie bewarb sich bei der Polizei. Drei Monate später verkündete ihr der Freund, dass sie sich geistig voneinander entfernt hätten, sie sei nicht imstande, mit seinem intellektuellen und akademischen Niveau mitzuhalten. Die Beziehung war zu Ende, und ihr Freund zog mit einem Mädchen zusammen, dem er sich in den Seminarstunden geistig angenähert hatte.
Dóra durchlief die Polizeiausbildung und schloss als Drittbeste ihres Jahrgangs ab. Im Anschluss daran erhielt sie eine feste Anstellung bei der Bereitschaftspolizei. Die Arbeit lag ihr sehr, auch wenn die Bezahlung nicht sonderlich gut war, aber da sie in ihrem bisherigen Leben mehr oder weniger von der Hand in den Mund gelebt hatte, war es ein ganz neues Gefühl, ein geregeltes Einkommen zu haben. Sie kaufte sich eine winzige Wohnung im Hlíðar-Viertel, wo sie sich wohl fühlte. Es waren zwar nur fünfundzwanzig Quadratmeter, aber das war mehr Platz, als sie je im Leben für sich allein zur Verfügung gehabt hatte. In Bolungarvík musste sie früher zusammen mit zwei Schwestern in einem Zimmer schlafen, und im Internat in Ísafjörður hatte sie ein Zimmer mit ihrer Freundin geteilt.
Dóras Stärke war ihre Tatkraft. Sie packte die Aufgaben, die ihr übertragen wurden, unerschrocken und beherzt an, wie unangenehm sie auch sein mochten. Ihren Vorgesetzten wurde das ziemlich schnell klar, und sie nutzten das weidlich aus. Während ihrer Tätigkeit bei der Bereitschaftspolizei wurde sie immer wieder mit Familienverhältnissen konfrontiert, die durch Alkoholmissbrauch und Gewalttätigkeiten völlig zerrüttet waren, in denen Frauen tyrannisiert und Kinder vernachlässigtwurden. Es handelte sich dabei immer um Problemfälle, die sehr schwierig zu lösen oder in richtige Bahnen zu lenken waren. Das war aber für Dóra genau das Richtige. Sie hatte von Natur aus ein Gespür dafür, wie man mit Betrunkenen umzugehen hat, und sie fand immer sehr schnell heraus, was für Lösungen in welchem Fall infrage kamen.
Bei einem solchen Fall musste sie einmal mitten in der Nacht einen Säugling wegen eines sturzbetrunkenen Familienvaters aus einer Wohnung in Sicherheit bringen. Sie war schon in den Streifenwagen eingestiegen, als der Besoffene aus dem Haus rannte, sich in sein Auto schwang, das Gaspedal durchtrat und den Streifenwagen seitlich rammte. Dóra, die mit dem Kind auf dem Arm auf dem Rücksitz saß, trug einen gebrochenen Oberschenkel davon, das Kind aber nur ein paar Kratzer von der Scheibe, die ins Auto splitterte.
Als Dóra wieder auf den Beinen stand, wurde sie übergangsweise für Büroarbeiten bei der Kriminalpolizei eingesetzt, wo sie aber nur so lange bleiben sollte, bis sie völlig wiederhergestellt war. Als dort eine feste Stelle frei wurde, bewarb sie sich darauf. Sie hatte organisatorische Fähigkeiten unter Beweis gestellt, und ihr Vorgesetzter schrieb eine Empfehlung für sie, obwohl er es überaus bedauerte, sie zu verlieren. Da sie sich aber nicht von ihrem Vorhaben abbringen ließ, war er anständig genug, ihre Bewerbung voll zu unterstützen, und Dóra erhielt die Stelle, und damit war sie Kriminalbeamtin geworden.
Dóra blieb noch eine Weile im Büro und nahm sich die bereits vorliegenden Protokolle zu den Mordfällen vor. Sie ging sämtliche Details sorgfältig durch und versuchte, sich ein Bild von den Tatumständen zu machen. Zeitangaben, Entfernungen und Vorgehensweise der Kollegen. Während sie das alles noch einmal las, machte sie sich Notizen. Irgendwo musste es doch einen Hinweis geben, den man als Ausgangspunkt nehmen konnte. Sie las ihren eigenen Bericht von ihrem Besuchbei Ólafurs Witwe am Donnerstag noch einmal durch. Das war ihre bislang einzige Begegnung mit dem Angehörigen eines Opfers in diesem Fall gewesen, und sie überlegte, ob sie alle Einzelheiten dieses Besuchs professionell genug ausgewertet hatte. Sie war zwar selbst der Sache weiter nachgegangen und
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