Bevor der Morgen graut
zu unterhalten, was dieser tags zuvor am Tatort als Zeuge beobachtet hatte.
Ragnar Jónsson lebte in einem netten Mehrfamilienhaus im Fossvogur-Viertel. Bevor Birkir das Haus betrat, stellte er nach eingehender Betrachtung fest, dass er selten einen so schönen Garten bei einem Mehrparteienhaus gesehen hatte. Er war äußerst gepflegt, der Rasen dicht und üppig, die Bäume und Sträucher ordentlich geschnitten. Die Blumen in den Beeten waren allerdings nach ein paar Frostnächten verwelkt, und das Laub der Bäume hatte sich verfärbt. Birkir verspürte ein leises Gefühl von Trauer. Wahrscheinlich lag es an der unvollendeten Gedichtzeile, die ihm plötzlich in den Sinn kam, die er gehört oder gelesen oder vielleicht sogar selber improvisiert hatte. »Herbst in meinem Sinn, Nacht ist Nahrung für Furcht.«
Diese Worte tauchten auf und verschwanden wieder, ohne dass er weiter über ihren Ursprung nachdachte. Das hatte er längst aufgegeben. Gewöhnlich waren es irgendwelche vereinzeltenVerszeilen, die ihm durch den Kopf schossen und die er irgendwann einmal gelesen oder bei dem alten Hinrik gelernt hatte. Aber manches stammte auch von ihm selber, er wusste aber nur selten, wie er darauf kam. Meist war es lediglich der ein oder andere Satz, nie ein ganzes Gedicht. Es konnte vorkommen, dass er solche Gedichtfetzen zur Verwunderung von Anwesenden laut von sich gab, aber für gewöhnlich behielt er sie für sich.
Birkir betrat den Hauseingang und klingelte. Als die Tür sich öffnete, stand Ragnar bereits im Treppenhaus, um ihn in Empfang zu nehmen. Die Wohnung, in die er Birkir führte, befand sich im Erdgeschoss. Ragnar trug ein Jackett, hatte aber keine Schuhe an. Eigentlich wie ein Gast, der zu Besuch war und sich nach isländischer Sitte höflichkeitshalber die Schuhe ausgezogen hatte, dachte Birkir. Er selbst behielt die Schuhe an, als er eintrat.
Ragnar stellte Birkir seine Frau vor: »Das ist Bára, meine Frau«, sagte er. »Es fällt ihr schwer, aufzustehen.«
Bára saß in einem tiefen Ohrensessel und hatte die Beine hochgelegt. Sie war unglaublich dick. Das Gesicht versank nahezu in den Fettpolstern an Hals und Schultern. Ihre Miene war völlig ausdruckslos, aber hin und wieder führte eine feiste Hand ein Taschentuch zum Auge und wischte unsichtbare Tränen ab. Ein dunkelblaues Kleid verhüllte diesen enormen Körper wie ein Zelt.
»Die Trauer setzt uns furchtbar zu«, erklärte Ragnar. »Meine Frau war das einzige Kind ihres Vaters.«
Birkir wandte sich der Frau zu und sagte: »Mein aufrichtiges Beileid. Ich weiß, dass ihr Schweres durchmacht. Es ist aber leider unumgänglich, dass ich euch noch einige Fragen stelle.«
Die Frau antwortete nicht.
»Um was für Fragen geht es?«, fragte Ragnar.
Birkir wandte sich an ihn. »Könntest du mir schildern, wie es zu diesem Jagdausflug kam?«
Ragnar war sichtlich erstaunt. »Aber das habe ich doch gestern deinem Kollegen ganz genau erzählt. Reicht das nicht?«
»Vielleicht fällt dir jetzt noch etwas mehr ein«, erwiderte Birkir. »Geh das Ganze doch bitte noch einmal Punkt für Punkt durch.«
»Ja, also, dann versuch ich’s mal«, sagte Ragnar, der einen Augenblick zögerte, bevor er fortfuhr. »Mein Schwiegervater und ich hatten es uns seit vielen Jahren zur Gewohnheit gemacht, zu dieser Jahreszeit einmal zusammen auf Gänsejagd zu gehen, meistens am letzten Sonntag im September. Verwandte meines Schwiegervaters besitzen im Mýrar-Bezirk Land, und dort darf er immer jagen. Ich selber bin allerdings kein großer Jäger, doch meinem Schwiegervater hat es sehr viel Spaß gemacht, und manchmal brauchte er ein bisschen Gesellschaft dabei. Vor zwei Wochen haben wir mit der Vorbereitung angefangen. Ich wollte das Ganze natürlich sofort drangeben, als von diesen Morden berichtet wurde, nicht wahr, Schatz?«
Die letzten Worte hatte Ragnar an seine Frau gerichtet, deren Nase sich jetzt auf und ab bewegte. Das schien ein zustimmendes Nicken zu sein, aber an der Nase war die einzige Bewegung in diesem Gesicht wahrzunehmen. Kinn und Kiefer waren in den Fettwülsten des Doppelkinns verschwunden.
Ragnar fuhr fort: »Davon wollte mein Schwiegervater aber absolut nichts wissen, für ihn kam es nicht infrage, den Jagdausflug abzublasen. Wir lassen uns doch nicht Angst und Bange machen, sagte er nur. Aber was ich befürchtete, traf ein, wie ihr wisst.«
»Haben viele von eurem Jagdausflug gewusst?«, fragte Birkir.
»Ja, aber wahrscheinlich sind alle davon
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