Bevor der Morgen graut
Armbanduhr. »Wir haben eine halbe Stunde Zeit«, sagte er. »Was willst du von mir wissen?«
»Heute Morgen wurde die Leiche deines Freundes Leifur gefunden«, sagte Birkir.
Jóhanns gesundes Auge richtete sich für einen Augenblick auf Birkir, das andere starrte weiter in Richtung Butterbrot.
»Im Fluss?«
Birkir antwortete: »Das kann ich dir momentan nicht sagen. Erzähl mir was über eure Freundschaft.«
Das gesunde Auge richtete sich wieder auf das Butterbrot. »Woher weißt du, dass wir befreundet waren?«
»Ich habe euch zusammen auf einem Foto gesehen«, antwortete Birkir. »Wie habt ihr euch kennen gelernt?«
Jóhann biss ein großes Stück ab und kaute, während er überlegte. Schließlich erklärte er: »Leifur und ich waren schon seit der Grundschule die dicksten Freunde. Wir waren immer zusammen. So gut wie immer, bis er dann auf einmal verschwand.«
»Warum habt ihr euch so gut verstanden?«
»Wir haben immer die gleichen Interessen gehabt. Solange wir klein waren, drehte sich alles um Fußball und Skilaufen, später ging es mehr um Reisen, Sport und Autos, und als wir alt genug waren, um Gewehre und Jagen. Wir sind beide mit siebzehn von der Schule abgegangen und haben angefangen, Geld zu verdienen. Manchmal zusammen, manchmal getrennt. Am liebsten irgendwo, wo man in kurzer Zeit gutes Geld machen konnte. Für ein paar Monate haben wir rangeklotzt und Kohle gemacht, und abends sind wir zusammen ins Fitness-Studio gegangen. Zwischendurch haben wir immer mal wieder blaugemacht und irgendwas Spannendes unternommen. Sind in den Wintersport gefahren oder im Sommer ans Mittelmeer. Irgendwas Cooles stand immer auf dem Programm – so lange bis das Geld dann wieder alle war.«
Jóhann verstummte und biss wieder in sein Brot.
»Und warum seid ihr auf einmal getrennte Wege gegangen?«, fragte Birkir.
»Was meinst du damit?«
»Du warst aus Akureyri weggezogen, als Leifur verschwand.«
»Das war reiner Zufall. Ich wollte mal für ein paar Monate in Reykjavík sein. Wir hatten noch gar nicht so richtig darüber gesprochen, aber ich ging davon aus, dass Leifur nachkommen und sich auch einen Job suchen würde. Wir hatten aber auf jeden Fall vor, auch weiterhin zusammen was zu unternehmen und Spaß zu haben. Damals habe ich allerdings ein paar Wochen nichts von ihm gehört, hab mir aber keine Gedanken darüber gemacht. Und dann war er auf einmal verschwunden, und ich hörte die Vermisstenmeldung. Normalerweise wäre ich natürlich sofort in den Norden gefahren und hätte mich an der Suche beteiligt, aber ich war damals wegen meines Auges im Krankenhaus und musste liegen. Die Polizei in Akureyri hat bei mir angerufen, und ich konnte ihnen sagen, wo wir normalerweise auf Gänsejagd gingen. Ich war total fassungslos, als die Polizei wieder anrief und mir sagte, dass er sich umgebracht hätte. Ich kann es eigentlich immer noch nicht glauben.«
»Es hat dich also überrascht, dass er Selbstmord begangen haben sollte?«, fragte Birkir.
»Es hätte mich nicht überrascht, wenn er bei einem Unfall ums Leben gekommen wäre. Er war unglaublich waghalsig und manchmal auch leichtsinnig. Aber wie gesagt, das andere konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen.«
»Was hat er denn gemacht, was so riskant war?«
»Jede Menge extreme Sachen. Er hat Freeclimbing gemacht und ist mit dem Snowboard oder auf Skiern fast senkrechte Hänge runtergebrettert. Er hat sich von Steilklippen ins Meer gestürzt und hat Base-jumping von Felsen aus gemacht. Schwindelgefühle kannte er überhaupt nicht. Und Auto gefahren ist er wie ein Wahnsinniger.«
»Und du, hast du auch bei so etwas mitgemacht?«
»Doch, ja. Aber er ging immer noch einen Schritt weiter als ich. Bei mir gab’s immer gewisse Grenzen, was das Risiko betraf, aber bei ihm nicht.«
»Hattet ihr irgendwelche Feinde?«
»Feinde? Nein. Wir haben uns nie mit jemandem angelegt.«
»Wie habt ihr Hjördís kennen gelernt?«
»Hjördís? Weshalb fragst du nach ihr?«
»Ich versuche, mich über Leifurs Umfeld zu informieren. Auch über seine Freunde.«
Jóhann blickte Birkir misstrauisch an. Nach einer Weile erklärte er: »Okay, ich erzähl dir was von Hjördís. Sie ist ein etwas spezieller Typ.« Ein kleines Lächeln huschte über Jóhanns Gesicht, bevor er fortfuhr: »Leifur und ich hatten die Schule schon längst geschmissen, als Hjördís nach Akureyri kam und im Gymnasium anfing. Ihr Vater war Arzt und arbeitete am Krankenhaus. Bis dahin hatten sie in Amerika
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