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Bevor der Morgen graut

Bevor der Morgen graut

Titel: Bevor der Morgen graut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Arnar Ingolfsson
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auch Sessel gab, setzte sie sich selber im Schneidersitz auf den Fußboden und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.
    Birkir nahm Platz und betrachtete die junge Frau eingehend. Ihre Gesichtszüge waren schön, hätten aber wahrscheinlich männlich gewirkt, wenn sie nicht geschminkt gewesen wäre. Dabei hatte sie einen rätselhaften Sex-Appeal. Starke Kiefer und hohe Wangenknochen, kleiner Mund, aber volle Lippen.Die kurz geschnittenen Haare waren hell gefärbt, mit einigen auffälligen roten und schwarzen Strähnchen rechts. Die Nase wies einige Sommersprossen auf, und die blauen Augen blickten ihn aufmerksam an.
    »Die Polizei in Akureyri hat sich im vergangenen Jahr mit mir in Verbindung gesetzt«, sagte Hjördís, als das Schweigen peinlich wurde. »Ich habe mich auch wie seine anderen Freunde an der Suche nach ihm beteiligt.«
    Birkir sagte nichts, sondern schaute sich im Wohnzimmer um. Auf einem hohen Tisch standen zwei Monitore, der eine war ein großer Flachbildschirm. Auf ihm tauchten verschiedene Fotos auf und verschwanden wieder mit diversen Effekten. Manchmal zersplitterten sie wie Glas, ein anderes Mal schienen sie sich in eine Flüssigkeit aufzulösen und den Schirm herunterzufließen, oder sie verwandelten sich in weißen Schnee und zerstoben. Anschließend tauchte wieder ein neues Bild auf. Auf dem Boden stand ein großer Drucker, und an der Wand daneben hingen Ausdrucke von unterschiedlichen Grafiken. Große Buchstaben fielen besonders auf, die alphabetisch angeordnet waren. Ein Buchstabe auf jedem Blatt, Groß- und Kleinbuchstabe nebeneinander. Das war kein Wohnzimmer, sondern ein Arbeitszimmer.
    Hjördís fuhr fort: »Ich konnte mir damals Leifurs Verschwinden überhaupt nicht erklären, und das hat sich bis heute nicht geändert … Er war kein unglücklicher Mensch, ganz im Gegenteil.«
    »Wie hast du Leifur kennen gelernt? Weshalb habt ihr euch angefreundet?«
    »Glaubst du, dass dir diese Geschichte helfen kann, seinen Tod zu erklären?«
    »Alle Informationen, die wir bekommen, tragen dazu bei, dass wir uns ein Bild von ihm machen können. Ob das zu einer Lösung führt, weiß ich nicht.«
    »Na, meinetwegen, wo du dir extra die Mühe gemacht hast, hierher zu kommen, werde ich versuchen, dir weiterzuhelfen.« Hjördís überlegte eine Weile, bevor sie begann: »Ich muss dir zunächst vielleicht etwas über meine persönlichen Verhältnisse erzählen, um unsere Freundschaft zu erklären. Es fing damit an, dass meine Familie von Boston nach Akureyri umgezogen ist, als ich sechzehn war. Mein Vater hatte in New England eine Spezialausbildung gemacht und dort anschließend einige Jahre gearbeitet. Dann wurde ihm aber eine Oberarzt-Stelle am Bezirkskrankenhaus in Akureyri angeboten. Für mich war das damals in einem schwierigen Alter eine schreckliche Umstellung. Natürlich bin ich in Island geboren und auch mehrfach zu Besuch gewesen, solange wir im Ausland lebten. Wir haben außerdem zu Hause immer Isländisch gesprochen, sodass ich so gesehen wegen der Sprache keine Probleme hatte. Aber aus einer Großstadt zu kommen und auf einmal in einem kleinen Nest wie Akureyri zu leben, das war ein richtiger Kulturschock. Ich hatte bis dahin eine sehr große High School in Boston besucht, wo alle nur denkbaren Fächer angeboten wurden, vor allem, was Sport und künstlerische Fachrichtungen betrifft. Da ging immer etwas ab, und ich hatte jede Menge Freunde.«
    Hjördís stand plötzlich auf, holte sich die Flasche Wasser, die auf dem Arbeitstisch stand, und trank einen Schluck daraus. Dann sprach sie weiter, aber ohne sich zu setzen. »Es war nicht nur, dass ich meine Freunde verlor, als wir nach Island zogen. Da kam noch etwas anderes hinzu, was es mir sehr viel schwieriger machte, mit meinem Leben fertig zu werden.«
    Sie zögerte einen Moment, bevor sie weiterredete: »Damals begann ich ernsthaft über meine sexuelle Veranlagung nachzudenken. Solange ich in Boston in der Pubertät steckte, hat es mich nicht gestört, dass ich nichts an den Jungs finden konnte, in die meine Freundinnen verschossen waren. Ich dachte immer, bei mir würde es einfach später kommen. Aber in Akureyriwar ich noch sehr viel weiter davon entfernt, Interesse an männlichen Wesen zu haben. Die isländischen Jungs schnitten auch im Vergleich zu meinen Schulkameraden in Boston ausgesprochen schlecht ab, was das Benehmen betraf. Sie waren ungehobelt und manchmal richtig unverschämt. Mit solchem Verhalten konnten sie bei mir nicht

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