Bevor der Morgen graut
ist sie jetzt?«, fragte Birkir.
Hjördís stoppte die Fotoshow des Bildschirmschoners, indem sie eine Taste auf der Tastatur antippte und mit der Maus eine Datei auswählte. Auf dem Bildschirm erschien eine muskulöse schwarze Leichtathletin beim Sprint.
»Das ist Rose. Sie lebt in New York und ist Sportlerin, Siebenkampf.«
Das Bild war ein paar Sekunden auf dem Schirm zu sehen, dann begann wieder die Fotoshow. Es handelte sich um Familienbilder von Hjördís, ihr ganzes Leben lief dort ab. Als Baby, in der Schule. Jedes Bild war einige Sekunden zu sehen.
»Ich klebe keine Bilder in Fotoalben, und ich hänge keine Bilder an die Wand«, erklärte Hjördís. »Ich verwende sie stattdessen als Bildschirmschoner, auf diese Weise habe ich sie immer vor Augen. Und so habe ich sie auch immer dabei, egal wohin ich reise und wo auch immer ich lebe.«
»Wie viele Bilder sind das insgesamt?«, fragte Birkir.
»Diese Serie hat so ungefähr tausend Fotos und zeigt zehnBilder pro Minute, sodass sie in circa hundert Minuten einmal durchlaufen. Ich habe aber noch mehr solche Loops.«
Birkir erkannte Jóhann auf einem der Fotos, das auf dem Bildschirm erschien, und bei ihm war ein junger Mann, der ihm auf den ersten Blick sehr ähnlich sah.
»Leifur und Jóhann. Erzähl mir doch noch etwas mehr über die beiden«, bat Birkir.
Hjördís hatte das Bild ebenfalls gesehen und stoppte die Show. Nach kurzem Schweigen sagte sie: »Sie waren sich unglaublich ähnlich, obwohl sie nicht miteinander verwandt waren. Tatsächlich beinahe wie Zwillinge, und das galt nicht nur fürs Äußere, sondern sie ähnelten sich auch charakterlich sehr.«
Sie ließ die Bildershow wieder weiterlaufen.
»Was meinst du damit, ähnelten sich sehr?«, fragte Birkir.
»Leifur ging bloß immer in allem ein bisschen weiter. Er ergriff öfter die Initiative, wenn es um waghalsige Unternehmungen ging, und er hatte immer die Nase vorn. Er hatte das Sagen bei den beiden. Das war aber nicht ganz einfach herauszufinden, und mir wurde das erst klar, als ich sie schon ziemlich lange kannte.«
»Erzähl ruhig weiter«, sagte Birkir, als Hjördís verstummte.
»Tja, sie hatten ziemlich früh die Schule geschmissen, aber das heißt nicht, dass sie dumm waren. Beileibe nicht. Sie waren vielleicht auf manchen Gebieten etwas unreif. Das, was sie am meisten interessierte, hatte mit Schule nichts zu tun. Sie lasen beispielsweise durchaus Bücher, aber eben keine Schulbücher. Sie interessierten sich auch für Philosophie und Geschichte, lasen Romane und hörten New-Age-Music. Hierbei war allerdings Jóhann derjenige, der die Anstöße gab. Außerdem holten sie sich ihre Kicks aus allen möglichen Extremsportarten und gaben Unmengen von Geld für Reisen aus. Alles, was sie sich vornahmen, wurde zu einem Wettbewerb. Computerspiele hattenes ihnen auch angetan, aber nicht Playstation oder so etwas, sondern alternative Reality Games, die im Internet durch die ganze Welt führten. Dasselbe Spiel konnte manchmal tagelang dauern, mit unzähligen Teilnehmern. Und sie haben sich dabei abgewechselt, wenn sie mit irgendwelchen Gegnern spielten. Ich hatte kein Interesse für solche Spiele und habe mich dann immer mit etwas anderem beschäftigt.«
»Was hast du für Interessen, außer Krafttraining?«, fragte Birkir.
»Grafikdesign«, war die spontane Antwort von Hjördís. »Ich war schon immer gut in Zeichnen und wollte mehr lernen. Ich kann mich endlos in Design-Zeitschriften vertiefen. Und Typografie finde ich auch sehr spannend. Ich entwerfe gerade neue Schrifttypen für die Überschriften einer amerikanischen Architektur-Zeitschrift. Ein spannendes und sehr anspruchsvolles Projekt.« Hjördís deutete auf die Ausdrucke an der Wand.
»Und jetzt studierst du das also?«, fragte Birkir.
»Ja, im vergangenen Herbst wurde ich an einer sehr angesehen Fachhochschule angenommen. Da habe ich richtig Glück gehabt, zuerst war ich nur auf der Warteliste, aber dann wurde ich zugelassen, weil jemand anderes einen Rückzieher machte. Deswegen bin ich auch im letzten Herbst etwas überstürzt ins Ausland gereist. Ich konnte noch nicht einmal bei der Gedenkfeier für Leifur dabei sein.«
»Hatten deine Freunde irgendwelche Feinde?«
»Was meinst du damit?«
»Weißt du von jemandem, der ihnen übel gewollt hätte?«
»Nein.«
»Wann hast du Leifur zuletzt gesehen?«
»Im August waren wir drei zusammen in Spanien, und ich bin vor ihnen zurückgefahren, weil ich mich um meine
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