Bevor der Morgen graut
Herrn gebeten, ihr den Wegzu weisen. Die Kinder hier haben an diesen Fürbitten teilgenommen, denn auf diese Weise verstehen sie besser den Unterschied zwischen Gut und Böse im Leben der Menschen.«
Birkir brauchte geraume Zeit, bis ihm die Bedeutung dieser Worte klar wurde. »Meinst du damit, dass ihr vor ihrer Tür gestanden und laut gebetet habt?«
»Ja.«
»Mit den Kindern?«
»Ja.«
»Geht das nicht ein bisschen zu weit?«
»Man kann nie zu weit gehen, wenn die Seele eines Menschen auf dem Spiel steht. In der Bibel offenbart sich Gottes Wille klar und deutlich.«
Der Sektenführer öffnete die Bibel bei einem Lesezeichen und las vor: »Brief des Apostels Paulus an die Römer, 1,26. »Denn ihre Weiber haben verwandelt den natürlichen Umgang in den unnatürlichen; desgleichen auch die Männer haben verlassen den natürlichen Umgang mit dem Weibe und sind aneinander entbrannt in ihren Lüsten und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den Lohn ihrer Verirrung, wie es ja sein musste, an sich selbst empfangen.«
Danach schlug er eine andere Seite auf und las: »Erster Brief des Apostels Paulus an die Korinther, 6,9. »Wisset ihr nicht, dass die Ungerechten werden das Reich Gottes nicht ererben? Lasset euch nicht irreführen! Weder die Unzüchtigen noch die Götzendiener noch die Ehebrecher noch die Weichlinge noch die Knabenschänder noch die Diebe noch die Geizigen noch die Trunkenbolde noch die Lästerer noch die Räuber werden das Reich Gottes ererben. Und solche sind euer etliche gewesen. Aber ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.«
Er klappte das Buch zu und sagte: »Hier steht Gott des AllmächtigenUrteil klar und deutlich geschrieben, das ist widernatürliche Unzucht.«
»Aha«, sagte Birkir.
»Bist du in deinem Herzen ein Christ?«, fragte der Sektenführer plötzlich.
»Ich bin getauft und konfirmiert«, antwortete Birkir.
»Aber ist dein Glaube lebendig?«
»Ich versuche, mich anderen Menschen gegenüber genau so zu verhalten, wie ich möchte, dass sie sich mir gegenüber verhalten. Ich versuche, anderen lieber Gutes als Böses zu tun. Ich gehöre der Staatskirche an, und Weihnachten ist in gewissem Sinne ein Fest für mich. Das ist mein lebendiger Glaube.«
Der Sektenführer legte Birkir eine Hand auf die Schulter. »Glaubst du, dass das ausreicht, um das Himmelreich zu erlangen, wenn das Gebet fehlt? Gottes Reich muss teuer erkauft werden, es kostet Opfer. Der Mensch muss zu seinem Gott streben.«
Birkir entfernte die Hand des Mannes von seiner Schulter, bevor er antwortete: »Ich glaube, Gott ist es relativ gleichgültig, ob wir uns an ihn wenden oder nicht. Auf jeden Fall ist es aber sein Wille, dass wir unseren Mitmenschen gegenüber ein besseres Verhalten an den Tag legen und uns Toleranz entgegenbringen in Dingen, die niemanden verletzen. Und ganz abgesehen davon bin ich der Meinung, dass Gott nur ein Teil der Physik der Unendlichkeit ist.«
Ganz offensichtlich verstand der Sektenführer nicht, was Birkir mit diesem Satz meinte, was kein Wunder war, denn er verstand es auch selber nicht. Es war ihm einfach so herausgerutscht.
»Du brauchst Beistand, um Gottes Wort zu verstehen«, sagte der Sektenführer. »Mit meiner Hilfe kannst du einen lebendigen Glauben erhalten. Wenn du zu unseren Versammlungen kommst, wirst du das Licht erschauen.«
»Vielen Dank, aber ich glaube, ich zünde lieber eine Kerze an«, sagte Birkir.
13:30
H jördís’ Wohnung lag zwei Stockwerke höher. Birkir ging die Treppen hoch, klingelte und wartete. Kurz darauf öffnete sich die Tür halb, und Hjördís erschien. Sie trug abgewetzte Jeans und ein weißes, ärmelloses T-Shirt aus Baumwolle, die nackten Füße steckten in Sandalen. Birkir erinnerte sich zwar, dass sie groß war, trotzdem war er überrascht, als er sie in der Tür sah.
»Ja, bitte?« Hjördís sah Birkir forschend an, der einen Schritt zurückgetreten war.
Er stellte sich vor und wies auf seine Dienstmarke. »Ich bin von der Kriminalpolizei. Du warst mit Leifur Albertsson befreundet, wir ermitteln in seinem Fall.«
»Immer noch? Es ist doch schon ein Jahr her, seit er verschwunden ist.«
»Ja. Seine Leiche wurde gestern gefunden.«
Hjördís öffnete die Tür und trat zur Seite: »Bitte, komm herein.«
Hjördís ging selbstbewusst vor Birkir ins Wohnzimmer und ließ ihn auf einem dreisitzigen Sofa Platz nehmen. Obwohl es
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