Bevor der Tod euch scheidet (German Edition)
aber Sie tun mir noch viel mehr leid. Ich verstehe auch, warum Bill so gehandelt hat. Er wollte nur seine Schwester beschützen.“
„Das sagen Sie doch bloß so!“, rief Henrietta. „Sie sind mit diesem Schurken Calder Hart zusammen!“
Francesca versteifte sich, woraufhin Bragg einwarf: „Francesca und Hart waren verlobt, aber falls Sie hier keine Zeitung gelesen haben, kann ich Ihnen berichten, dass die Hochzeit abgesagt wurde. Francesca wird ihn nicht heiraten.“
Das schien die ältere Frau zu überraschen. „Wir bekommen hier nur selten mal eine Zeitung, und selbst dann müssen wir das Dreifache des normalen Preises bezahlen. Ich kann mir das nicht leisten.“
„Ich werde veranlassen, dass Sie eine Tageszeitung geliefert bekommen, Henrietta, und die wird Sie keinen Cent kosten!“ Francesca war empört, allerdings wusste sie, wie es in Gefängnissen ablief. Die Aufseher nahmen die Gefangenen aus, wo sie nur konnten, und wenn es nur um eine Tageszeitung ging. „Lesen Sie gern? Soll ich Ihnen auch ein paar Bücher schicken?“
„Warum sind Sie hier?“, fragte Henrietta argwöhnisch. „Und warum sind Sie so nett? Was wollen Sie von mir?“
„Wir wollen eigentlich mit Bill sprechen. Da die Universität den Sommer über geschlossen ist, dachten wir, Sie könnten uns vielleicht sagen, wo wir ihn finden können.“
Sie wurde blass. „Was wollen Sie von meinem Jungen? Er ist ein guter Junge! Er hat niemandem etwas getan! Steckt er etwa in Schwierigkeiten?“
„Nein, überhaupt nicht, Henrietta“, versicherte Francesca ihr. „Aber wir ermitteln in einem Fall, und er könnte uns dabei eine große Hilfe sein. Das ist der einzige Grund, weshalb wir mit ihm sprechen wollen.“
„Ich habe ihn seit Monaten nicht mehr gesehen, ich weiß nicht, wo er ist. Er ist so ein guter Junge! Er studiert Jura, damit er Anwalt werden kann. Und eines Tages wird er dafür sorgen, dass man Mary in Freiheit entlässt.“
Francesca zögerte. Mary war geisteskrank, und das wusste Henrietta. Es erübrigte sich daher, sie darauf hinzuweisen, dass ihre Tochter nirgendwo besser untergebracht war als im Bellevue Hospital.
„Wann haben Sie Bill das letzte Mal gesehen?“
„Ich weiß nicht genau … vor vielen Monaten … Er war dabei, als man mir den Prozess machte.“ Sie lachte verbittert auf.
„Es ist schlimm hier, ich weiß“, sagte Francesca und nahm Henriettas Hand. „Es tut mir so leid, dass Sie hier sind! Ich werde Ihnen Bücher schicken, und im Oktober kommen Sie ja wieder raus. Im Oktober, Henrietta! Denken Sie immer daran.“
Die andere Frau begann zu weinen. „Von Ihnen möchte ich nichts! Mir fehlt meine Mary … und Bill … unser Zuhause, unsere Familie. Sie ist ein guter Mensch, Miss Cahill, sie hatte ihrem Vater nicht wehtun wollen! Niemals!“
„Wir wissen, dass sie es nicht wollte. Und es ist verständlich, dass Ihnen Ihr Zuhause und Ihr Sohn fehlt.“ Franeesea drückte ihre Schulter und wagte es in diesem Moment nicht, Bragg anzusehen.
„Er ist ein so guter Junge! Keine Frau könnte sich einen besseren Sohn wünschen als ihn. Jedes Wochenende besucht er mich und …“ Abrupt verstummte sie und riss erschrocken die Augen auf.
Franeesea stutzte. „Bill besucht Sie an jedem Wochenende?“
„Nein, nein, ich wünschte, er würde das tun!“, rief sie hastig.
„War Bill am vergangenen Wochenende hier, Mrs Randall?“, mischte Bragg sich ein. „Sagen Sie uns die Wahrheit! Wenn Sie schweigen, müssen wir uns nur das Besucherregister ansehen. Niemand betritt dieses Gebäude, wenn er sich nicht eingetragen hat.“
Sie war bleich, ihre Hände zitterten. „Fast jedes Wochenende kommt er her. Nur dann nicht, wenn er eine Prüfung hat.“
Mein Gott! Franeesea sah Bragg an. „War er am vergangenen Wochenende hier?“, fragte er energisch.
„Ja“, flüsterte Henrietta. „Er war hier … am Samstagmorgen.“
Damit war Bill Randall zum Hauptverdächtigen aufgerückt.
ELF
Montag, 30. Juni 1902
Mittags
Maggie Kennedy, die einen Kleiderbeutel an ihre Brust gedrückt hielt, wurde langsamer und blieb stehen. Sie befand sich in Höhe der eleganten kreisrunden Auffahrt an der Ostseite des Metropolitan Club. Als sie durch das offen stehende schmiedeeiserne Gittertor schaute, bemerkte sie drei wunderschön und sehr kostspielig gekleidete Damen, die soeben aus einem Hansom Cab ausstiegen. Diener in karmesinroter und goldener Livree waren zu ihnen geeilt, um ihnen die Tür der Kutsche aufzuhalten,
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