Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
vorzustellen, dass die Menschen, die mir am allernächsten standen, mich betrogen haben, ist unmöglich. Und dass Aina diese Lüge in all den Jahren mit sich herumgetragen hat, kann ich auch nicht verstehen. Dass sie meine Freundin und Vertraute war, obwohl sie mich doch verraten hatte.
Stefan.
Der Mann, den ich liebte und den ich besser als jeden anderen Menschen zu kennen glaubte.
Aina.
Meine beste Freundin, die mich häufiger vor dem Absturz gerettet hat, als ich zählen kann. Die am Abgrund neben mir stand, meine Hand hielt, mir geduldig erklärte, warum es keine gute Idee sei. Wie konnte das passieren? Liegt es viel leicht daran, dass sie in all den Jahren immer zu mir gehalten hat, wollte sie ihre Schuld sühnen? Hat sie mich deshalb unterstützt und verstanden? Hat sie es deshalb mit mir ausgehalten, wenn niemand es mehr mit mir aushielt?
Plötzlich fällt mir mein Gespräch mit Vijay im kalten Wind auf dem Eis ein. Wie er mich besorgt ansah, als ich die Frage stellte, wie er nickte.
Sicher, es ist möglich, mit einem Menschen zusammenzuleben, ohne ihn wirklich zu kennen.
Jetzt zehrt eine andere Frage an mir.
Wer warst du? Was hast du getan, Stefan?
Wer warst du, bevor du gestorben bist?
Wir sehen einander an, die Flasche und ich. Es ist jetzt so lange her – über drei Jahre. Ich zögere einen Moment, dann ziehe ich den Korken heraus, der das vertraute Ploppgeräusch hören lässt. Der Wein gluckert, als ich die blaurote Flüssigkeit in eine von Kaffee befleckte Tasse gieße.
Er schmeckt sauer, gar nicht gut. Aber eine vertraute Wärme breitet sich fast sofort in meinem Körper aus. Ich mache im Kamin ein Feuer und setze mich an den Küchentisch. Draußen umschließt die Dunkelheit das Haus. Es ist seltsam windstill. Die Zweige der Rosensträucher vor dem Küchenfenster bewegen sich nicht um einen Millimeter, ich könnte auch ein Foto ansehen. Plötzlich überkommt mich das lähmende Gefühl, dass ich genau das tue, dass ich die Wirklichkeit nicht sehe, wie sie ist, sondern nur als Projektion.
Wer warst du, Stefan? Wer warst du, bevor du gestorben bist?
Stefans Hände, Stefans Körper in meiner Nähe, in mir. Ich erinnere mich an jeden Augenblick, aber woran erinnere ich mich denn – an die Wahrheit oder etwas anderes?
Ich denke an Markus, den Mann, den ich heute liebe. Natürlich liebe ich ihn. Aber kann ich denn wissen, wer er ist? Kann ich ihm vertrauen, kann ich überhaupt irgendwem vertrauen? Kann ich dem Leben vertrauen? Kann ich mir denn vertrauen, meiner Erinnerung an das, was einmal war?
Mein Leben liegt in Trümmern. Neben mir die Flasche. Ein jämmerlicher, schändlicher Trost. Meine Beziehung zu Markus ist dabei, sich aufzulösen. Aina, meine engste Freundin, auch sie ist verschwunden. Im Moment habe ich jedenfalls das Gefühl, sie niemals wiedersehen zu wollen. Dann fällt mir plötzlich ein, was sie gesagt hat, dass sie Krebs hat. Was bedeutet das? Wird auch sie sterben? Wie alle anderen in meiner Nähe? Ich nehme an, ich sollte eine Art Mitgefühl verspüren, aber das kann ich einfach nicht. Im Moment gibt es in mir nur Leere.
Was jetzt aus der Praxis werden soll, weiß ich auch nicht. Sven verschwindet, und Aina … werde ich je wieder mit ihr zusammenarbeiten können? Ich ahne die Antwort. Auch die Praxis ist verschwunden. Sie hat in dem Moment aufgehört zu existieren, in dem Aina erzählt hat, dass sie ein Verhältnis mit Stefan hatte. Wir werden nie wieder zusammenarbeiten können.
Keiner, den ich lieben kann. Keine beste Freundin. Keine Arbeit.
Und hier sitze ich jetzt. Auch meine Vergangenheit ist mir gestohlen worden. Nicht einmal die durfte ich behalten. Sogar das, was war, die Erinnerung an meine und Stefans selbstverständliche Liebe, ist heute gestorben. In dem Moment, in dem Aina es mir gesagt hat.
Ich kippe den Wein herunter und schenke nach. Eine stille Kühle hat sich über den Raum gesenkt. Plötzlich sitzt er mir einfach gegenüber.
Stefan.
Seine Haare sind fast verschwunden, und große Hautfetzen haben sich von der Wange gelöst und Fleisch und Knochen bloßgelegt. Er sitzt zusammengekrümmt da mit einem traurigen Gesicht.
»Warum?«, flüstere ich.
Er gibt keine Antwort.
Ich leere noch ein Weinglas und schenke nach.
»Ich sollte dir vielleicht ein Glas anbieten?«
Aber Stefan schaut mich nur aus seinen toten Augen an.
Das Weinen kommt plötzlich, überrumpelt mich. Die Tränen laufen wie Gewitterregen über meine Wangen, lassen sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher