Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
abgelehnt. Plötzlich scheint eine gewaltige Müdigkeit jede Zelle meines Körpers besetzt zu haben. Ich kann kaum die Augen offen halten. Schultern und Rücken tun weh, als ob ich den ganzen Tag einen schweren Rucksack getragen hätte.
Ich rufe zweimal bei Markus an, aber er meldet sich nicht. Ich kann ihn vor mir sehen, wie er vor dem großen Kaminfeuer sitzt, mit einem Bier in der Hand, sein Blick so leer wie meiner, während Eva und Göran nervös im Zimmer herumlaufen oder in der Diele mit Erik spielen.
Ich gehe in die Küche, sehe die Weinflaschen an, die wie ein Mahnmal auf der Anrichte stehen.
Es gibt Dinge, die sich nie ändern. Verhaltensweisen, die niemals vorübergehen, Begehren, das niemals nachlässt. Vielleicht werde ich enden wie Micke Arvidsson und seine Mutter, in einem Haus voller leerer Flaschen, mit einer Pseudokarriere als Alibi, um nicht am wirklichen Leben teilnehmen zu müssen, und einem Körpergeruch, der alle Bekannten, die sich zu nähern wagen, in die Flucht schlägt.
Ich denke an meinen Besuch in der heruntergekommenen Villa auf Lidingö, habe plötzlich das Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Als habe sich dort in den staubigen Zimmern etwas im Dunkeln versteckt oder als habe jemand etwas gesagt, das wichtiger war, als ich zunächst erfasste. Nach einer Weile fällt es mir ein. Ich sehe Agneta Arvidsson vor mir, die dünnen Arme, die vom vielen Sonnen mitgenommene Haut. »Micke, Besuch für dich. Zum zweiten Mal in zwei Tagen. Wieso bist du plötzlich so beliebt?«
Und dann Mikaels zerschundene Augenbraue, sein kurzer Kommentar: »Ich bin gestern gegen etwas gestoßen.«
Mikael Arvidsson kommt mir vor wie ein Einsiedler. Ohne ein richtiges soziales Leben. Wen hat er am Vortag getroffen? Und hat diese Person ihn geschlagen?
Ich öffne noch eine Flasche Wein und gehe ins Wohnzimmer, mache es mir auf dem Sofa bequem. Die Leere und der Schmerz in der Brust weichen jetzt einem trügerisch sanften und vagen Gefühl. Und mitten in Kummer und Verzweiflung ist er noch da, so unbezwinglich wie eh und je, der Drang zu erfahren, was passiert ist. Trotz allem, was geschehen ist, will ich noch immer die Wahrheit finden.
Vielleicht, weil sie das Einzige ist, was mir noch bleibt.
Ich greife zum Telefon, rufe Mikael Arvidsson an.
»Agneta Arvidsson«, meldet sich die heisere Stimme atemlos.
Ich stelle mich vor, frage, ob Micke zu Hause ist.
»Nein«, sagt sie gleichgültig. »Der wollte einkaufen. Rufen Sie in einer Stunde wieder an.«
»Moment noch, ich würde Sie gern etwas fragen.«
»Mich?«
Ich höre das Klicken eines Feuerzeugs, nehme an, dass sie sich eine Zigarette angesteckt hat.
»Ja, als ich vor zwei Wochen bei Ihnen war, haben Sie erwähnt, dass Micke am Vortag Besuch hatte. Sie haben gescherzt und gesagt, er sei ja ungeheuer beliebt geworden.«
»Ach?«
Sie klingt noch immer gleichgültig, und ich habe das Gefühl, dass sie noch etwas anderes tut. Zeitung liest, fernsieht, die langen krummen Nägel lackiert.
»Wissen Sie noch, wer Micke am Vortag besucht hat?«
Pause.
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Bitte. Für mich ist das eben wichtig.«
Langes Seufzen. Dann lautes Ausatmen. Ich kann den Rauch fast durch die Leitung riechen.
»Das war dieser Typ, den er heute Abend treffen wollte. Der, der mit ihm auf der Schule war. Sie wollten sich verabschieden, weil der Typ wohl ins Ausland geht. Ulrik, so heißt er doch? Ulrik Lundin.«
Ich versuche, vorsichtig zu fahren, in dem Bewusstsein, dass ich viel zu viel Wein getrunken habe. Aber ich merke, dass ich mehrmals gefährlich nahe an den Straßenrand gerate. Der Verkehr fließt zäh, und ich brauche fast eine Stunde bis Ropstein. Das Wasser ruht schwarz und still da unten, als ich über die Brücke fahre, spiegelt das Licht der Häuser auf Lidingö, der Hafenspeicher und der zylinderförmigen Öltanks wider, die wie gigantische Baumstümpfe beim Värtahamn aus dem Boden ragen.
Ulrik Lundin, denke ich und versuche, das Bild des sehnigen, ungemein sympathischen Mannes vor mir zu sehen, der mich in dem schönen Haus in Saltsjöbadet empfangen hat, aber die Erinnerung lässt mich im Stich. Ich sehe nur die schwarze Silhouette eines Gesichts, ohne erkennbare Züge.
Was ist 1988 passiert? Warum hast du Mikael Arvidsson besucht? Hast du ihn geschlagen, und wenn ja, warum? Du warst auch der Einzige, der wusste, dass die Zeugin im Park Anna Kantsow hieß. Ich habe Micke ihren Namen nie gesagt. Hast du sie
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