Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
aufhalten. Mein ganzer Körper zieht sich in heftigen Krämpfen zusammen. Der Schmerz ist unerträglich. Ich beiße mir in die Hand, um nicht zu schreien.
»Du schuldest mir eine Erklärung«, bringe ich unter Schluchzen heraus. »Ich habe es verdient, den Grund zu wissen. Warum du mich verlassen hast, warum du mich betrogen hast.«
Er rutscht näher an mich heran. Greift nach meiner Hand, aber ich schüttele den Kopf.
»Nein, Stefan, nein. Du kannst nicht einfach herkommen, wenn es dir so passt. Erst hast du mich allein gelassen. Dann kommst du zurück, weil es dir gerade passt. Verstehst du nicht, was das für ein Gefühl ist?«
Aber er macht weiter, schmiegt sich an mich. Legt mir seinen kalten Arm um die Schultern.
»Was willst du?«, schluchze ich.
Er streichelt vorsichtig meine Wange. Seine Finger fühlen sich trocken an, wie verwitterte alte Holzstücke, die am Strand angespült worden sind, und ich nehme den vagen Geruch feuchten Meeresbodens wahr.
Als ich aufwache, ist Stefan verschwunden. Ich schaue auf die Uhr, ich habe nur eine halbe Stunde geschlafen. Ich gieße mir den letzten Wein in die Tasse, greife zu meinem Telefon, wähle die Nummer und rufe an.
Er klopft nicht an, als er kommt. Kommt einfach herein, wie schon so oft.
»Siri?«
Ich höre die Sorge in Vijays Stimme.
»Hier«, sage ich, versuche, ruhig zu sprechen.
»Aber Herzchen …«
Er lässt sich neben mir auf das Sofa sinken. Drückt mich an sich. Ich rieche Zigarettenrauch und Rasierwasser, als er den Parka abstreift und um meine Schultern legt.
»Herrgott. Du bist ja schweinekalt.«
Er geht in die Küche, und ich kann hören, wie er Holz in den Kamin legt und einen Topf mit Wasser füllt. Dann sitzt er wieder neben mir. Nimmt die leere Weinflasche vom Boden weg, ohne das zu kommentieren. Fasst meine Hände und sieht mich mit ernster Miene an.
»Erzähl.«
Der Rausch ist verflogen und der Tee getrunken. Die Wärme hat sich im Haus verbreitet. Vijay raucht. Das Weinglas auf dem Couchtisch ist mit Kippen gefüllt.
»Du hattest also keine Ahnung?«
Er schüttelt den Kopf, streicht sich eine schwarze Locke hinter das Ohr.
»Wir hatten damals doch keinen Kontakt. Und Aina hat nie auch nur ein Wort gesagt. Ich hatte keine Ahnung. Mir ist klar, wie schrecklich das sein muss.«
»Ich spüre gar nichts«, sage ich wahrheitsgemäß und sehe ihn an.
Vijay lächelt sein trauriges Lächeln.
»Jetzt spürst du nichts. Nein. Aber das kommt noch, das weißt du auch. Ich nehme an, du wirst dann sehr wütend auf Aina sein. Sehr, sehr wütend. Aber wenn du bedenkst, was ihr alles durchgemacht habt, wie lange ihr einander kennt. Ich finde, du solltest versuchen, ihr zu verzeihen. Wo sie doch krank ist und überhaupt. Ich glaube, ihr könnt darüber hinwegkommen.«
»Es gibt sie nicht mehr«, murmele ich.
»Was?«
»Sie ist tot für mich. Hat nie existiert. Ich will sie nie wiedersehen.«
Pause.
»Das geht vorüber.«
»Das glaube ich nicht. Das will ich nicht«, berichtige ich mich.
Vijay sagt nichts. Drückt nur die Kippe zwischen den anderen aus. Er schaut aus dem schwarzen Fenster und streicht sich über den Schnurrbart. Seine Hände und Nägel sind gepflegt. Er ist überhaupt gepflegt, sehr angenehm. Er riecht gut. Man merkt, dass er sich Mühe gibt. Auch er ist allein, denke ich, und für eine Sekunde schäme ich mich, weil ich so auf meine Probleme konzentriert bin, dass ich nicht einmal fragen mag, wie es ihm geht.
»Das bedeutet also, dass Stefan nichts mit dem Tod von diesem Anders zu tun hatte?«
Ich überlege eine Weile.
»Ich weiß es nicht. Er hat sich in dem Winter ja nicht mit Anders getroffen, sondern … und diese Notiz, dass mit A Schluss sein muss, die bezog sich wohl auf Aina. Er wollte die Beziehung beenden. Aber trotzdem stimmt etwas nicht. Ich bin davon überzeugt, dass Stefans Selbstmord und der Mord an Anders auf irgendeine Weise zusammenhängen. Anders’ Mörder hat gewusst, wer er war, er kannte seinen Spitznamen aus der Schulzeit. Und dieser verschwundene Junge, Nicklas Swan. Stefan hatte doch ein Foto von seiner Freundin in seinem Taschenkalender. Alles hängt zusammen. Ich weiß nur nicht, wie.«
Vielleicht ist es mir jetzt auch egal, wie es zusammenhängt, denke ich. Die Wahrheit ist eine starke Medizin, von der es mir nicht unbedingt besser geht.
Vijay ist gefahren. Er wollte mich mit in die Stadt nehmen, mich in sein großes Bett stecken und mit Pralinen füttern. Aber ich habe dankend
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