Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
ein anderer war, bevor wir uns kennengelernt haben. Dass er Seiten hatte, die mir verborgen blieben. Dass es hinter der warmherzigen, munteren Fassade etwas Düsteres gab.
Mikaels Blick ist jetzt verschwommen, als habe er sich in Erinnerungen an die Vergangenheit verloren. Er schnieft laut hörbar, und ich streichele unbeholfen seinen Arm.
»Bitte, erzähl mehr. Ihr wart vier Jungs, und ihr wart immer zusammen, oder? Du, Stefan, Ulrik und Anders.«
Er nickt.
»Verdammt, auch Anders … der arme Trottel. Ach, wenn wir damals gewusst hätten …«
Er weint jetzt lauter.
»Soll ich etwas holen? Eine Serviette?
Er schüttelt den Kopf, wischt sich mit dem Ärmel die Nase, räuspert sich und gießt mehr Wein ein. Wieder rieche ich Schweiß und ungewaschene Haare.
»Wie gesagt, wir waren verantwortungslos, haben dauernd gefeiert, manchmal Drogen genommen. Wie alle anderen. Stefan und Anders gaben den Ton an. Ich glaube wohl vor allem Anders. Ich vermute, die meisten fanden ihn ziemlich unsympathisch. Er war ziemlich aufgeblasen. Protzte gern auf Kosten anderer mit seinem Wissen aus Philosophie und Politik. Aber ich weiß nicht, ich glaube, er wollte vor allem Aufmerksamkeit erregen, provozieren. Ich glaube nicht, dass er die Menschen so verachtete, wie er durchblicken ließ. Ulrik und ich … waren wohl eher Mitläufer. Das soll jetzt keine Entschuldigung dafür sein, sich wie ein Arsch aufzuführen, aber trotzdem. Du hast gefragt, und so war es. Eins hatten wir immerhin gemeinsam. Wir waren jung, dumm und unerhört unerfahren. Und vergiss nicht, es war eine andere Zeit, Ende der achtziger Jahre, weißt du noch?« Die geröteten grauen Augen blicken mich fragend an, er schnieft wieder und fährt sich mit dem Ärmel über die Nase. »Die Glanzzeiten von Kapitalismus und Egoismus. Nicht nur wir waren oberflächlich und arrogant, so war doch der ganze Zeitgeist. Weißt du, was ich meine?«
Ich nicke langsam, die achtziger Jahre interessieren mich jetzt nicht. Ich überlege eine Sekunde, wie ich ihn aus dem Gleichgewicht bringen kann, wie ich ihn dazu bringe, mit mir zu teilen, was er doch offenbar weiß. Dann kommt mir eine Idee. Ich beuge mich vor zu der aufgedunsenen Gestalt neben mir, fixiere ihn mit dem Blick.
»Stefan und Nietzsche haben also bestimmt, was Sache war?«
Die Reaktion kommt sofort. Er fährt dermaßen zusammen, dass der Wein aus dem Glas auf das abgenutzte schwarze Sofa schwappt.
»Ich weiß, dass er Nietzsche genannt wurde«, sage ich. »Warum hast du das neulich nicht erwähnt?«
»Du hast sicher nicht gefragt«, sagt er und blickt mich verständnislos an.
»Ich habe gefragt, ob du weißt, wer Nisse war.«
»Nisse? Mir war nicht klar, dass du Nietzsche gemeint hast.«
»Das glaube ich dir nicht.«
Er zuckt mit den Schultern und schaut zu Boden, offenbar will er über dieses Thema nicht sprechen.
»Was hat euch damals eigentlich auseinandergebracht?«
Pause. Micke unterdrückt einen weiteren Rülpser.
»Wir haben Abitur gemacht. Unsere Wege trennten sich. So läuft es doch?«
Er schaut mich fragend an, als ob er meine Unterstützung suchte.
»Ich weiß nicht, ob es so läuft«, sage ich vielleicht ein wenig zu schroff und trinke einen Schluck.
Noch ehe ich das Glas abstellen kann, füllt er es nach. Gierig trinke ich noch einen Schluck, spüre, wie der Rausch sich in meinem Körper ausbreitet, und ergebe mich dem saugenden, warmen Gefühl, erlaube mir, noch tiefer in dem Ledersofa zu versinken. Dann höre ich oben eine Tür gehen.
»Meine Mutter kommt«, stellt er fest und öffnet noch eine Weinflasche.
Kurze, scharfe Schritte. Das Hämmern der spitzen Absätze ist über uns zu hören. Zuerst in die eine Richtung, dann in die andere. Ich höre den kleinen Hund bellen.
»Jetzt ruft sie«, sagt Micke leise.
Ich sehe ihn fragend an.
»Miiiicke?«, höre ich gleich darauf von oben.
Micke gibt keine Antwort, starrt nur leer vor sich hin und trinkt noch einen Schluck Wein.
»Jetzt kommt sie«, murmelt er.
Nach einigen Sekunden wird die Stille wieder durch die Schritte gebrochen. Diesmal kommen sie näher, trommeln knallend und in überraschendem Tempo die Treppe herunter.
»Trinkst du schon wieder«, flüstert Micke mit glasigem Blick.
Agneta Arvidsson taucht auf der Treppe auf. Die Haare zu einer Seitenrolle aufgesteckt. Die gebleichten Jeans kleben an den knochigen Beinen. Eine goldfarbene Tunika verbirgt erstaunlich effektiv den kugelrunden Bauch.
»Trinkt ihr schon wieder?«,
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