Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
vergilbten Familienfotos. Ein abgenutztes schwarzes Ledersofa und ein kleiner Glastisch stehen mitten im Zimmer vor einem riesigen Fernseher. Ansonsten gibt es nur noch ein ausladendes Bücherregal, das eine ganze Wand bedeckt. Ich schaue kurz hinüber. Es scheint sich vor allem um Fachbücher über Botanik und Geschichte zu handeln. Auf dem Boden sind leere Bierdosen und Schnapsflaschen sorgfältig aufgereiht. Ein dickes, abgegriffenes Buch über den Zweiten Weltkrieg und eine alte Decke liegen auf dem Ledersofa, und mir geht auf, dass das Sofa vielleicht als Mickes Bett dient.
Er schaut sich verlegen um, nimmt rasch Decke und Buch weg.
»Bitte sehr«, sagt er und zeigt auf das Sofa, »setz dich, dann schenke ich uns einen Schluck Wein ein.« Er schaut zur Flasche hinüber. »Wein von der Rhône, das ist immer richtig. Trinkst du eigentlich gern Châteauneuf-du-Pape?«
»Ich weiß nicht«, sage ich wahrheitsgemäß.
»Eine der besten Weinbaugegenden Frankreichs, wenn du mich fragst. Möchtest du etwas zum Knabbern? Erdnüsse, Oliven, ein Stück Käse? Es müsste eigentlich was im Kühlschrank sein.«
Ich schüttele den Kopf, staune insgeheim darüber, wie geschickt er die Sauferei in höfliche Umgangsformen kleidet, und lasse mich auf das schwarze Ledersofa sinken. Ich sinke so tief ein, bis ich halb liege, und denke, dass das Sofa vielleicht als Bett gar nicht so schlecht ist.
Er geht quer durch den Raum, und ich ahne nebenan eine Teeküche. Er holt zwei Gläser hervor, hält sie ins Licht, wie um sich davon zu überzeugen, dass sie sauber sind. Dann scheint er zu entscheiden, dass sie das nicht sind, ehe er sie unter dem Wasserhahn abspült, einen Lappen nimmt und sie abtrocknet. Mit einer geübten Handbewegung zieht er den Korken aus der Weinflasche und schenkt ein.
»Du musst die Unordnung entschuldigen, ich hatte nicht mit Besuch gerechnet.«
»Es ist doch nicht unordentlich«, lüge ich und schaue mich im Zimmer um.
Er fährt sich mit der Hand durch die langen graumelierten Haare, kommt auf mich zu und reicht mir ein Glas. Schwacher, aber deutlicher Schweißgeruch schlägt mir entgegen.
Armer Micke, denke ich. Diese ganze Begabung, die Ulrik erwähnt hat, total vergeudet. Er leert einsam im Keller eines Klinkerhauses seine Weingläser mit seiner Mutter als einziger Gesellschaft.
»Dann prost.«
»Prost«, sage ich und zwinge mich, ihn anzulächeln.
Er hebt das Glas zum Mund, leert es auf einen Zug, atmet aus und stellt es mit einem Knall auf den Glastisch.
»Und was willst du also wissen?«
»Ich will wissen, wer Stefan war. Eigentlich.«
»Das verstehe ich nicht. Ihr wart doch verheiratet und überhaupt. Wie soll ich dir erzählen können, wer er war? Das musst du doch am besten wissen. Ich hatte schließlich seit über zwanzig Jahren nichts mehr mit Stefan zu tun.«
Er rülpst und gießt sich mehr Wein in das angestoßene Glas.
»Hoppla, Verzeihung«, murmelt er und legt eine seiner großen Hände über seinen Bauch, wie um den zur Ordnung zu rufen.
»Ich will wissen, wer er damals war. Als ihr euch gekannt habt. Es ist, als ob … Manchmal frage ich mich, ob ich ihn wirklich gekannt habe. Verstehst du?«
Micke sieht mich an. Etwas Trübes liegt jetzt in seinem Blick, etwas, das ich nicht deuten kann. Es ist, wie in einen schlammigen Teich zu schauen und den Boden nicht zu sehen.
»Darf ich eine Frage stellen? Wozu soll das gut sein? Du bekommst ihn ja doch nicht zurück.« Er verstummt für eine Sekunde, leert wieder sein Glas. »Er war absolut in Ordnung, dein Stefan. Zu sehr, vielleicht. Er hätte etwas Besseres verdient als einen solchen Tod. Er war manchmal streitsüchtig und arrogant, wie wir anderen auch, aber im tiefsten Herzen war er in Ordnung, begabt, umsichtig. Weiß der Teufel, ob er nicht trotz allem ein wenig Empathie hatte.«
Seine letzten Worte verwirren mich. Was meint er damit? Stefan war einer der empathischsten Menschen, die mir je begegnet sind. Er konnte sich bisweilen vollständig zurücknehmen in der Bemühung, dass es allen in der Nähe gutging.
»Stefan hatte doch eine Menge Empathie?«, frage ich vorsichtig.
Er sieht mich an, hebt die buschigen Augenbrauen so sehr, dass seine Stirn wie eine Ziehharmonika zusammengezogen wird.
»Das hatte er sicher. Als du ihn gekannt hast.«
Wieder überwältigt mich dieses Gefühl wie eine Welle. Es wirft mich um, lässt mich die Orientierung verlieren. Das Gefühl, dass ich Stefan nie gekannt habe, dass er vielleicht
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