Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
weinte.
Dort, in der Alltäglichkeit der Villa, war etwas Entsetzliches passiert. Stefan wusste, dass er das Bett verlassen müsste. Aufstehen, Anders und Micke suchen. Sie mussten etwas tun. Einen Krankenwagen rufen oder die Polizei. Einen Nachbarn holen oder jemanden, der gerade auf der Straße vorbeikam. Egal wen. Irgendwen.
Aber er blieb liegen. Er konnte nicht aufstehen oder sich auch nur bewegen.
Vor dem Fenster war der Himmel hellblau. Er sah keine Wolken, und die Baumwipfel vor dem Fenster waren still.
Kein Wind, kein Regen.
Nur Sonne und blauer Himmel. Er hörte in der Ferne einen Rasenmäher und schreiende und lachende Kinder.
Als ob nichts passiert wäre.
Als ob Nicklas Swan nicht im Wohnzimmer läge, in einer Lache aus Blut und Urin, und nicht aufwachen wollte.
Ein Schatten in der Türöffnung. Im Gegenlicht konnte er Anders’ Gesicht nicht sehen, aber die breiten Schultern und die Haare, die aufrecht standen wie Borsten, waren nicht zu verkennen.
»Aufstehen, Jungs. Wir müssen … reden.«
Anders’ Stimme klang gepresst und unbenutzt. Der erste Satz des Tages.
»Ich. Will. Nicht.«
Ulrik betonte jedes Wort, schaute aber noch immer nach oben. An die Decke, zu einer scheußlichen gelblichen Deckenlampe.
»Aber das musst du, Ulrik. Stefan, komm jetzt. Wir müssen reden. Micke hat Kaffee gekocht. Wir müssen das hier in Ordnung bringen. Mickes Mutter kommt heute Abend nach Hause, und bis dahin muss die Lage geklärt sein.« Anders’ Stimme war entschieden und voller Autorität, und Stefan klammerte sich an das Gesagte, als ob Wörter sie retten könnten.
Wir müssen das hier in Ordnung bringen.
Ließ es sich denn in Ordnung bringen?
Stefan erhob sich, spürte die Übelkeit in Wellen aufsteigen. Micke hatte eine gelbe Plastikschüssel, auf deren Boden »Scholl« stand, neben das Bett gestellt. Seine Mutter nahm darin Fußbäder. Stefan packte die Schüssel und übergab sich. Er spürte Anders’ Hand auf der Schulter, Anders hielt ihn fest, strich ihm die Haare aus der Stirn. Sein Atem traf warm und feucht Stefans Nacken.
»Na los, Steffe. Du musst jetzt aufstehen. Du musst mir bei Ulrik helfen.« Anders flüsterte ihm ins Ohr, und Stefan ahnte seine Verzweiflung und Angst.
Auf wackligen Knien richtete Stefan sich auf, und zusammen mit Anders fing er an, Ulrik aus dem Bett zu ziehen. Der wand sich, versuchte, ihre Hände abzuschütteln.
»Scheißt drauf. Lasst mich in Ruhe!« Sein Schrei war verzweifelt, und Tränen liefen ihm über die Wangen.
Zusammen konnten Anders und Stefan ihn auf die Beine bringen und durch die Schlafzimmertür und den langen schmalen Gang in die Küche schleifen. Ulrik weinte immer weiter, machte einen kraftlosen Versuch, sich aus ihrem Zugriff zu befreien, beruhigte sich aber, als sie die helle Küche erreicht hatten. Er ließ sich auf einen abgenutzten Holzstuhl sinken und schlug die Hände vors Gesicht.
Micke hatte Tassen hingestellt, und der Duft frischen Kaffees breitete sich im Raum aus. Es wäre ein normaler Samstagvormittag gewesen, wenn nicht unter einer Decke auf dem Parkettboden des Wohnzimmers ein Körper gelegen hätte. Micke hatte rote Augen, war leichenblass und sah so verzweifelt aus, dass es Stefan einen Stich versetzte. Was hatten sie am Vorabend nur gemacht? Wie zum Teufel hatte das passieren können?
»Er ist tot.« Anders’ Stimme war sachlich. Er stellte es fest, als ob er täglich Todesfälle vermeldete. »Er ist tot, und wir müssen etwas unternehmen.«
Aber Stefan ließ sich von dieser Ruhe nicht täuschen. Er hatte Anders im Schlafzimmer gehört. Verzweiflung und Angst. Er konnte die Anspannung unter dem neutralen Tonfall hören und begriff. Anders hatte die Rolle des Anführers auf sich genommen. Jemand musste das Kommando über die Situation ergreifen, und er war vorgetreten. Jetzt versuchte er, ruhig und gesammelt zu erscheinen. »Also was zum Teufel können wir machen?«
Stefan schaute zu Anders auf, trank einen Schluck von dem heißen schwarzen Kaffee. Spürte, wie sein Magen sich zusammenkrampfte, hatte Angst, wieder kotzen zu müssen.
»Er ist tot, und es ist unsere Schuld. Wir haben ihn umgebracht.«
»Aber was zum Teufel machen wir jetzt?«
»Das ist deine Schuld.« Mickes Ausbruch kam plötzlich und überraschend. »Du Arsch … du hast mich provoziert. Du und Nietzsche, ihr wolltet unbedingt, dass ich dieses Scheiß- Amphetamin einwerfe.« Er machte einen Schritt auf Ulrik zu, packte dessen Haare und riss sein
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