Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
Swans Kopf richtete und er nicht eingegriffen hatte. Als er es sich erlaubt hatte, in den kollektiven Rausch hineingerissen zu werden, statt auszusteigen. Jetzt müsste er aufstehen und den anderen sagen, was zu tun wäre: die Wahrheit sagen, die Polizei anrufen. Zu dem stehen, was sie getan hatten.
Aber sofort meldete sich die Hoffnung.
Der Gedanke an eine Rettung.
Die Möglichkeit, alles einfach hinter sich zu bringen, weiterzugehen. Sich den Konsequenzen dieses Schrecklichen zu entziehen und mit dem Leben weiterzukommen. War das möglich? Bestand die Chance, dass er mit dem Leben weitermachen könnte, das noch kaum angefangen hatte? Interrail. Studium. Alles, was er bisher für selbstverständlich gehalten hatte?
Anders sah die anderen an.
»Na gut, irgendwer kann euch gesehen haben. Und? Ihr habt miteinander geredet, vielleicht über Jörgen Nielsens Fest, oder er wollte wissen, ob wir Leute kennen, die verkaufen. Ihr habt nein gesagt. Mehr wisst ihr nicht. Schlimm, dass er verschwunden ist. Was kann da passiert sein? Nö, wir haben keine Ahnung. Schluss, aus. Sie wissen absolut nichts über uns. Was glaubt ihr, wie viele gestern unterwegs waren, wie viele ihn wohl gesehen haben? Und wenn sie ihn gesehen haben, was haben sie dann gesehen? Einen Typen mit Kapuze. Kann doch jeder gewesen sein, einfach jeder.« Anders ließ sich auf dem Stuhl zurücksinken und trank aus der weißen Kaffeetasse.
»Aber was ist mit dem Busfahrer? Er ist doch mit dem Bus gekommen? Kann der Fahrer ihn nicht erkennen?« Micke schaute Anders skeptisch an.
»Dasselbe. Durchnässter Typ mit Kapuze steigt in Ropstein ein. Ach was. Solche sieht er doch jeden Tag zu hunderten. Außerdem hat Swan sich sicher große Mühe gegeben, um nicht aufzufallen. Er wollte nicht gesehen werden, vergesst das nicht.«
»Aber wir haben noch immer einen Toten hier liegen. Was sollen wir mir ihm machen? Ihn in einen Teppich wickeln und wegtragen? Wir können den Mann nicht einfach wegzaubern. Mickes Mutter kommt … wann? In zehn Stunden? Hier sieht es aus wie auf einem verdammten Schlachtfeld, und wir müssen außerdem noch die Lei… Habt ihr gesehen, wie es draußen aussieht? Strahlender Sonnenschein, die Nachbarskinder spielen im Garten und die Leute mähen den Rasen. Es sind so viele Menschen. Irgendwer wird uns sehen.«
Stefan wollte Anders wirklich glauben. Glauben, dass man etwas tun könnte, egal was, aber alles kam ihm total unmöglich vor.
» Wir werden gesehen werden. Aber niemand wird eine Leiche sehen. Wir schaffen ihn hier weg, ohne dass jemand ihn bemerkt. Und dann fahren wir eine Runde mit dem Boot.«
Anders sah verbissen aus. Verbissen und entschlossen.
Langsam bekam Stefan eine Ahnung von Anders’ Plan. Sie würden den toten Nicklas ungesehen aus dem Haus schaffen und sich seiner dann entledigen, ihn im Meer versenken, an einer Stelle, wo er nicht mehr auftreiben und gefunden werden könnte.
»Und Ulrik, was sollen wir mit dem machen?« Stefan nickte zu Ulrik hinüber, der über dem Küchentisch lag und nichts von ihrem Gespräch zu hören schien. Anders beugte sich vor, stieß ihn an, schüttelte seinen Oberkörper. Als Ulrik keine Reaktion zeigte, rüttelte Anders ihn heftiger und flüsterte ihm etwas Unhörbares ins Ohr. Sie sahen, wie Ulrik erstarrte. Er richtete sich auf. Grauweiß im Gesicht, schweißnass, mit Augen wie zwei große schwarze Löcher sah er sie an.
»Ihr seid doch verrückt. Wenn wir das hier hinter uns haben, will ich mit euch nie wieder etwas zu tun haben. Ist das klar? Ich will euch nie wieder sehen.« Seine Stimme war schwach und brüchig, aber seine Augen glühten vor Verachtung und Hass.
»Wir sollen verrückt sein? Du bist hier verrückt! Du bist das, der hier verrückt ist! Kapierst du? Du hast mit allem angefangen. Ohne dich wäre das nie passiert.« Stefan staunte über seinen Zorn. Er hatte die Fäuste geballt und glaubte für einen Moment, dass er Ulrik gleich schlagen würde. Sich auf ihn stürzen und seine Faust Ulriks Nasenbein zerschmettern lassen. Aber dann fiel ihm ein, wie sie Nicklas misshandelt hatten. Wieder wurde ihm schlecht, und sein Arm sank nach unten.
»Jetzt beruhigt euch doch, zum Teufel.«
Wieder Anders. Autorität, ohne Spielraum für Zweifel.
»Kapiert ihr das nicht? Es ist ganz egal, wer schuld ist. Es ist passiert. Das ist eine Tatsache, und wir müssen etwas unternehmen, sonst ist alles … aus. Und klar, Ulrik, du brauchst mich oder die anderen nie wieder zu sehen,
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