Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
bin im selben Moment gestorben wie er«, fügt er dann hinzu. »Das hier«, er zeigt auf das Zimmer, »ist kein Leben. Alles, was ich wollte, alle meine Träume sind an dem Tag gestorben. Alles, was ich hätte werden können, was ich hätte erreichen können … An manchen Tagen tut es so weh, dass nicht mal der Schnaps hilft. An manchen Tagen spiele ich mit dem Gedanken, allem ein Ende zu machen. Aber das kann ich nicht … sie würde damit nicht fertigwerden.«
In diesem Moment höre ich den kleinen Hund oben bellen, werde daran erinnert, dass dort Mikaels Mutter sitzt. Vermutlich mit einem Cocktail in der Hand, ohne eine Ahnung davon, was ihr Söhnchen mir soeben in der Kellerwohnung erzählt hat.
»Stefan?«, frage ich vorsichtig.
Micke nickt langsam.
»Er war stärker als ich. Er hat es geschafft, Schluss zu machen. Ich verstehe ihn, und ich beneide ihn. Nicht ein Tag vergeht, ohne dass ich wünschte, es ihm nachmachen zu können. Dem Elend ein Ende setzen. Endlich meinen Hut nehmen.«
»Und Ulrik?«
»Ulrik?«
Ich ahne eine Reaktion in seinem apathischen Gesicht. Er blinzelt und erwidert meinen Blick.
»Von Ulrik prallt alles ab, verstehst du? Bei ihm bleibt nichts haften. Er steht einfach auf und geht weiter. Ich weiß nicht, ob das Stärke ist oder ob ihm etwas fehlt. Der Mann ist … ich weiß es nicht …«
»Ich glaube nicht, dass du dich mit Ulrik treffen solltest. Mit ihm stimmt etwas nicht.«
Jetzt habe ich Mickes volle Aufmerksamkeit. Er fährt sich mit der Hand durch die langen grauen Haare, die sich an den Ohren locken, schüttelt den Kopf, sodass das Doppelkinn bebt.
»Was sollte das denn sein?« Er schlürft seinen Wein.
Langsam versuche ich es ihm zu erklären, so pädagogisch ich das in meinem angetrunkenen Zustand kann.
»Wenn diese Geschichte herausgekommen wäre, hätte Ulrik alles verloren. Geld, Familie, Status. Er war vielleicht bereit, weit zu gehen, um das zu behalten. Dieser Autounfall, in den Anders verwickelt war, der hatte ihn doch verändert. Er wollte ein besserer Mensch werden. Ich glaube, er wollte erzählen, was ihr getan habt, er wollte zur Polizei gehen. Vielleicht hat Ulrik ihm in dem Park aufgelauert?«
Micke reibt sich die Hände, als ob er friert, aber ich kann sehen, dass ihm der Schweiß auf der Stirn steht. Von oben höre ich die scharfen Schritte. Sie trommeln über unseren Köpfen hin und her.
»Und dann die Zeugin im Park. Anna Kantsow. Ich habe Ulrik gesagt, wie sie hieß und was sie gesagt hat, das mit Nisse. Es war für ihn sicher leicht, sie ausfindig zu machen und zum Schweigen zu bringen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie und ich eins und eins zusammengezählt hätten.«
Er fährt sich mit dem breiten Handrücken über die Stirn, wischt sich den Schweiß ab.
»Wie gesagt«, murmelt er. »Ulrik ist das egal.«
»Aber er war doch bei dir? Am Tag vor meinem Besuch war er bei dir?«
Micke mustert mich interessiert, als ob ich seine Erwartungen übertroffen und mich als unerwartet begabt erwiesen hätte.
»Das stimmt allerdings. Er hat mir eine reingehauen.«
»Und warum?«
Micke schüttelt den Kopf.
»Ich bin müde«, sagt er. »Können wir ein andermal weitermachen? Ich habe Kopfschmerzen und eine Menge zu tun. Muss mich an meine Abhandlung setzen. Können wir jetzt aufhören?«
Die Anfangsmelodie der Nachrichten sickert aus dem Erdgeschoss zu uns herunter, und die scharfen Schritte verstummen.
»Nein, warte. Was ist dann passiert? Das muss ich wissen.«
Er seufzt tief, schlägt die Hände vors Gesicht.
Stockholm 1988
Stefan lag in Agneta Arvidssons ungemachtem Bett. Schwacher Parfümduft stieg vom Kissen auf. Anaïs Anaïs. Seine frühere Freundin hatte es auch benutzt, sich immer viel auf die schmalen Handgelenke und in die Halsgrube gespritzt. Damals hatte ihm der Geruch gefallen, aber jetzt wurde ihm schlecht davon, und er merkte, dass er gleich wieder kotzen müsste.
Ihm brach der kalte Schweiß aus, und vor Angst konnte er kaum atmen. Was war am Vorabend eigentlich passiert? Was hatten sie getan? Er drehte sich um, schaute Ulrik an, der neben ihm im Doppelbett lag. Ulriks dunkle Haare waren nach hinten gestrichen, seine Stirn war feucht. Kleine Schweißtropfen funkelten im Licht der Morgensonne, die durch das Fenster fiel. Ulriks Augen waren weit offen, und er starrte auf einen Punkt an der Decke. Auf seiner Wange ruhte ein einsamer Tropfen. Stefan begriff erst nach zwei Sekunden, dass es eine Träne war.
Ulrik
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