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Bevor du stirbst: Roman (German Edition)

Bevor du stirbst: Roman (German Edition)

Titel: Bevor du stirbst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Grebe , Åsa Träff
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Einheit bilden, die ein Mensch ist.
    Kann man mit einem Menschen zusammenleben, ohne ihn wirklich zu kennen?
    Ich denke an die Frage, die ich Vijay auf dem brüchigen Eis von Brunnsviken gestellt habe, während die blauviolette Dämmerung sich über Stockholm senkte. Weiß plötzlich, dass ich die Antwort jetzt kenne. Die, die dir am nächsten stehen, können ganz anders sein, als du glaubst. Die, die dir am nächsten stehen, können dich am tiefsten verletzen.
    Aina und Stefan.
    Vor nur einer Woche eine unmögliche Vorstellung. Was sagt das über das Leben? Über mich? Über Markus und Erik, die oben in Norrland warten, die vielleicht zurückkehren werden? Wenn Markus das über sich bringt, denn das hat er gesagt: Er weiß nicht, ob er noch mehr über sich bringt.
    Jetzt sitze ich also hier und habe die Wahrheit auf den Knien liegen, ein grausiges Geschenk, und überlege, ob sie mich auf irgendeine Weise befreit. Oder ob es doch bes ser wäre, es nicht zu wissen. Das Zimmer dreht sich immer schneller, und ich bereue bitterlich, dass ich den Wein getrunken habe. Ich merke, dass ich mich in diesem Zustand weder auf meinen Körper noch auf meine Urteilskraft verlassen kann.
    »Verzeih mir«, murmelt Micke zwischen leisem Schluchzen. »Ich musste es tun. Sie hätte es nicht ertragen. Sie hätte es erfahren können.«
    Ich sage nichts.
    Was soll ich schon sagen? Micke hat einen Jungen umgebracht und geholfen, den Leichnam beiseitezuschaffen. Erwartet er von mir eine Art Absolution? Soll ich ihm vergeben?
    Das Zimmer kommt mir plötzlich eiskalt vor, als hätte sich während Mickes furchtbarem Bericht der Winter eingeschlichen und sich im Keller verschanzt, ihn in Besitz genommen.
    »Ich musste das tun«, murmelt Micke auf seinem Platz am anderen Ende des Sofas, und ich habe Lust, ihn mit irgendetwas zu schlagen.
    Was musste er tun? Einen Sechzehnjährigen töten, um die eigene Haut zu retten? Ein Leben auf Lügen aufbauen? Alkoholiker werden, um jeden Tag mit sich selbst aufwachen zu können? Jahraus, jahrein.
    »Verzeih mir«, murmelt er, vom Schluchzen unterbrochen. »Es war ihretwegen. Verzeih mir, Nietzsche.«
    Ich erstarre.
    Dass Micke bereut und voller Schuldgefühle steckt, ist nichts Neues, aber warum redet er über Anders?
    Langsam fügt das Bild sich zusammen.
    »Was sagst du da?«
    Er scheint mich zu hören, obwohl ich nur flüstern kann, denn nun putzt er sich mit dem Pulloverärmel die Nase und schaut mich mit trübem Blick an.
    »Er wollte es sagen. Ich musste es tun. Wegen Mama.«
    »Du?« Mehr bringe ich nicht heraus.
    »Du verstehst das nicht«, sagt er mit lautem Schluchzen. »Mama hätte es nicht ertragen, es hätte sie umgebracht. Ich bin doch alles, was sie noch hat.«
    In mir weicht die Wut einem anderen Gefühl. Der Angst. Mir geht plötzlich auf, dass Mikael Arvidsson nicht nur unglücklich, ein Versager und ein Säufer ist, sondern vermutlich auch sehr gefährlich. Langsam erhebe ich mich auf zitternden Beinen vom Sofa. Verfluche abermals den ganzen Wein.
    »Du darfst nicht gehen«, sagt er kurz, ohne mich anzusehen.
    Ich bleibe stehen, setze mich aber nicht. Der Boden schwankt gefährlich, und ich schwanke auch und wäre fast gefallen.
    Micke nuschelt und schluchzt weiter, scheint total in seine eigene Angst vertieft zu sein.
    »Anna Kantsow?«, frage ich.
    Er dreht den Kopf gerade so weit, dass er mich aus den Augenwinkeln sehen kann.
    »Du hast doch Ulrik angerufen und das mit Nisse erzählt. Er wusste sofort, dass jemand von uns Anders umgebracht hatte, da der Mörder ihn Nietzsche genannt hatte. Und es gab ja keine große Auswahl. Deshalb war er damals hier. Und deshalb hat er mir eine reingehauen. Er war wahnsinnig. Hat mich einen Verrückten genannt und gesagt, ich sollte auf diese Zeugin Kantsow scheißen. Er wusste auch, wie sie hieß.«
    Wieder sehe ich das Bild von Anna. Eiskristalle an den blaugefrorenen Lippen. Eine kleine bleiche Hand, im Eis festgefroren. Die Feuerwehrleute in ihren neonfarbenen Schutzanzügen mit den Äxten in den Händen.
    In der nächsten Sekunde ist mein Entschluss gefasst. Ich will zur Treppe laufen, aber mein Bein stößt gegen den Glastisch, und ich gerate ins Stolpern. Mein Körper ist träge und unsicher und erstarrt mitten im Schritt, um das Gleichgewicht zurückzugewinnen. Micke nutzt die Gelegenheit. Obwohl er mindestens zwei Flaschen Wein in sich hineingeschüttet hat, sind seine Reflexe rasch und fließend wie bei einem Reptil. Er packt meinen

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