Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
Knöchel und reißt mich mit unerwarteter Kraft um. Der Boden verschwindet unter meinen Füßen, und ich stütze mich im Fall automatisch mit den Händen ab. Ich höre ein knackendes Geräusch in meinem linken Handgelenk, als ich auf den Boden knalle, und ein scharfer Schmerz schießt durch meinen Arm in meine Schulter.
»Du darfst nicht gehen«, wiederholt er, ohne die Stimme zu heben. »Du darfst ihr nichts sagen. Du musst hierbleiben.«
Ich bleibe auf dem Bauch liegen, auf halber Strecke zwischen Sofa und Treppe. Meine Wange ruht auf den kalten Fliesen, und ich kann die Treppe sehen – so nah und doch so fern. Kalte Luft streicht an meinem Körper entlang. Oben muss etwas offen stehen. Mein Magen krampft sich zusammen, und ich spüre im Mund den bitteren Geschmack meiner eigenen Galle. Aus dem Augenwinkel ahne ich Micke, sehe noch, wie er sich über mich wirft. Gleich darauf spüre ich das Gewicht seines kräftigen Körpers. Es verschlägt mir den Atem, ich bleibe bewegungslos liegen.
Ich denke an Markus und Erik, frage mich, ob ich sie wiedersehen werde. Sehne mich danach, Erik zu umarmen. Seine weiche kleine Wange zu küssen. Den rundlichen Körper auf dem Arm zu haben, seinen Duft einzuatmen.
Markus und Erik. Alles, was zählt.
Plötzlich geht mir auf, dass es genau so ist. Und die Trauer nimmt ein Ende – diese düstere Blume in mir. Ich will mein Leben zurückhaben, meine Familie. Ich will mich selbst zurückhaben, so wie ich war, ehe ich es erfahren habe. Plötzlich bereue ich diese sinnlose Suche nach der Wahrheit über Stefan, wünsche, ich hätte auf Markus gehört. Alles losgelassen. Hatte ich denn nicht alles, was ich brauchte?
Dann höre ich wieder die scharfen, hämmernden Schritte im Erdgeschoss. Sie laufen über uns hin und her, als mache Agneta sich aus irgendeinem Grund Sorgen.
»Bleib still«, murmelt Micke.
Die Schritte kommen näher.
»Miiiicke«, höre ich Agneta Arvidsson rufen. »Du musst jetzt mit Caesar los!«
»Komm gleich, Mama«, ruft er zurück und presst mir die Hand auf den Mund.
Dann kommt der Schlag. Ich bin nicht darauf vorbereitet, spüre eigentlich keinen Schmerz. Etwas Hartes, Metallisches trifft mich mit voller Wucht am Kopf. Licht explodiert vor meinen Augen. Millionen von Sonnen leuchten auf. Bilder, Fragmente eines Lebens, flimmern vorüber: Eriks Kopf, der schwer an meiner Schulter ruht. Stefan und ich, während wir uns auf den sommerwarmen Felsen beim Haus lieben. Markus auf dem Schneemobil, mit der Thermosflasche in der Hand, seine Haut, die von den letzten Strahlen der Abendsonne golden gefärbt wird. Aina, die im Sand einen Kopfstand macht und lacht, alle ihre Zähne zeigt. Ihre braungebrannten Beine zeigen in den Himmel. So gerade und bewegungslos wie die Thujen vor dem Haus der Arvidssons.
Etwas Heißes fließt über meine Wange zu meinem Ohr. Ich hebe die Hand, streiche damit über meine Wange und meine Schläfe. Das Blut ist hellrot und klebrig. Riecht nach Eisen.
Dann verschwindet das Zimmer um mich herum, löst sich auf.
Ich stehe auf dem Eis. Markus trägt seine dicke Daunenjacke und Erik seinen Overall. Das Schneemobil ist vollgetankt, und die Taschen sind gepackt. Stefan steht ein Stück weiter, als ob er nicht richtig dazugehört. Er winkt mir vorsichtig zu, und ich winke zurück.
Markus und ich besprechen, was wir machen werden. Haben wir alle Platz auf dem Schneemobil? Markus findet es besser, wenn Stefan später zu uns stößt. Er hat für Stefan auch Proviant eingepackt, und es gibt für alle Kaffee und Wasser genug.
Der Wind peitscht kleine harte Schneeflocken gegen unsere Gesichter. Erik kehrt ihnen instinktiv den Rücken zu und zieht den Kopf ein. Die Sonne wirft ein bleiches gelbes Licht und steht ganz dicht über dem Horizont.
Wir fahren über das Eis, Erik sitzt zwischen mir und Markus und lacht. Stefan ist irgendwo in der Nähe, ich weiß nicht genau wo, aber bald wird er kommen. Da bin ich sicher.
In mir steigt ein gewaltiger Jubel auf, ein seltsames Glücksgefühl. Das Festland saust vorbei, der Schnee wirbelt in der wachsenden Dämmerung, Erik schreit glücklich.
Ich brauche nicht mehr zu suchen. Ich habe alles, was ich brauche.
Als wir Rönnskär erreichen, geht die Sonne unter. Plötzlich werden die Schatten lang, und die Temperatur sinkt beunruhigend schnell. Markus verteilt Tassen mit dampfend heißer Schokolade. Wir trinken aus Plastikbechern, während die Sonne, die sich in eine riesige Apfelsine verwandelt hat,
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