Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
hinter dem Horizont verschwindet.
Ich küsse Markus auf den Mund, spüre seine Bartstoppeln an meiner Wange. Rieche Seife und nasse Wolle.
Das hier ist Glück.
Der Schmerz in meinem Handgelenk und meiner Schulter lässt mich aufschreien, und der Schrei reißt mich aus meinem Traum, fort von Markus und Erik auf dem Eis bei Rönnskär und zurück in Mikael Arvidssons Keller.
Er sitzt auf mir, presst sein ganzes Gewicht auf meinen verletzten Arm.
»Still.« Er legt mir die große feuchte Hand auf den Mund, bohrt die Finger in meine Wange. »Du musst still sein«, wiederholt er.
Langsam komme ich zu mir. Ich liege auf dem Bauch auf dem Boden. Zwei Meter von der Treppe entfernt. Um meinen Kopf herum sammelt sich eine Lache aus warmem Blut. Micke sitzt auf mir, und als ich den Kopf bewege, sehe ich die Pistole, seltsam klein in seiner riesigen Hand. Ich begreife, dass er die irgendwo im Zimmer versteckt hatte. Natürlich hat er eine Waffe. Er hat doch Anders erschossen.
Ich muss die Aufmerksamkeit von Agneta Arvidsson erregen. Sie ist die Einzige, die mich noch retten kann. Die Einzige, die weiß, dass ich hier bin. Eingesperrt in einem Keller, mit einem Mann, der nicht zögern würde angesichts der Entscheidung, mich zu erschießen oder sein Geheimnis preiszugeben. Und ich will nicht hier sterben. Will Markus und Erik nicht verlassen.
Ich will leben.
Ich schlage mit der Faust auf den Boden und hoffe, dass das im Erdgeschoss zu hören ist, aber die Steinplatten absorbieren das Geräusch, und ich höre nur ein dumpfes Pochen.
Wellen der Übelkeit durchspülen mich, als ich mich bewege, und plötzlich ist der Boden gefährlich schräg. Am Rand meines Blickfeldes kriecht die Finsternis heran. Es dämmert, denke ich. Bald ist es Nacht, und alles ist zu spät.
Vorbei.
Ich habe das Gefühl, in einer Höhle zu liegen, einem dunklen Tunnel. Wird es so enden? In Mikael Arvidssons Keller? Wir haben einander vielleicht verdient, Micke, Agneta und ich? Saufbruder und Saufschwestern, viel zu sehr mit ihren eigenen Dämonen beschäftigt, als sich am wirklichen Leben zu beteiligen.
Dann höre ich wieder die scharfen Schritte. Sie durch schneiden die Dunkelheit wie Messer. Laufen hin und her. Scheinen nachzudenken. Zu versuchen, etwas zu begreifen.
»Miiicke, was macht ihr da unten eigentlich?«, ruft Agneta von oben.
»Bin gleich da, Mama«, ruft Micke und sieht mich an, während er die Pistole schwenkt, wie um mich daran zu erinnern, dass ich still sein soll. Aber mein Körper gehorcht mir nicht. Eine eisige Kälte hat sich ins Zimmer und in meinen jetzt unkontrolliert zitternden Körper geschlichen.
Um mich herum im Zimmer fallen Schneeflocken. Es ist jetzt ganz dunkel, nur der Mond ist zwischen den kahlen Bäumen zu sehen. Markus zieht den Handschuh aus, fasst meine kalte Hand. Es ist Nacht, und wir dürften nicht auf dem Eis sein. Das will ich ihm sagen, aber meine Lippen sind kalt und starr. Die Wörter bleiben hängen, werden in meinem Mund zu gefrorenen Steinen. Dann höre ich ein wütendes Hacken, als ob jemand neben uns mit einer Axt auf das Eis einschlägt.
Das Hacken geht weiter, verwandelt sich in zornige scharfe Schritte. Wieder liege ich auf dem Boden in Mickes Keller. Die Schritte hämmern weiter, entschlossen, bis zum Anfang der Treppe und dann gehen sie weiter nach unten.
»Männlein, Caesar muss Pipi machen«, sagt Agneta Arvidsson gebieterisch.
Micke steht auf.
»Ich komme gleich, Mama.«
Ich versuche, mich zu bewegen.
Agneta taucht auf der Treppe auf. Ihr Blick verdüstert sich, als sie uns entdeckt, sie packt das Geländer und reißt die Augen auf.
»Aber was macht ihr denn? Was ist hier los?«
»Nichts, Mama. Rein gar nichts«, beteuert Micke und versucht ein schwaches Lächeln.
»Aber«, sagt Agneta, plötzlich verwirrt. Der alberne kleine Hund kommt hinter ihr her.
»Beruhig dich doch«, sagt Micke. »Sie ist gestolpert.«
Agneta schaut mich kurz an, wie um festzustellen, ob Micke die Wahrheit sagt. Dann erstarrt sie, als sie die Pistole in seiner Hand sieht.
Und sie bleibt stehen. Stumm. Sogar der kleine Hund ist stumm.
Micke richtet die Pistole auf sie. Die grauen Haare flattern ein wenig im Luftzug. Agneta reißt den Mund auf, wie ein Fisch. Aber sie sagt noch immer nichts.
Ein Schuss fällt. Das Geräusch ist seltsam gedämpft, wie ein Korken, der aus einer Flasche gezogen wird. Agneta Arvidssons Arme heben sich zu den Seiten, als wollte sie wegfliegen und müsste Anlauf nehmen.
Weitere Kostenlose Bücher