Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
rothaarige Robert, der schon dreizehn und am ganzen fetten Leib mit Sommersprossen übersät war. Er legte Stefan die Hand auf die Schulter, stieß grob zu. Hinter ihnen schrien die anderen Kinder immer lauter.
Er suchte nach etwas, wo er sich festhalten könnte. Versuchte verzweifelt, sich mit den Füßen entgegenzustemmen, glitt aber einfach über die abgenutzten nassen Bretter. Der Rand kam immer näher, und er wusste, dass er fallen und auf das glitzernde blaue Wasser zustürzen würde, und die glatten Wellen würden sich in einen stählernen Spiegel verwandeln.
Er würde sich den Hals brechen.
Robert versetzte ihm einen letzten Stoß, und Stefan fiel. Fiel dem Tod entgegen.
Und erwachte. Immer erwachte er in diesem Moment.
In Wirklichkeit war es natürlich nicht so gewesen. Er war freiwillig auf den Sprungturm geklettert, war zum Rand gegangen und ihm war furchtbar schwindelig gewesen, als er gesehen hatte, wie hoch fünf Meter wirklich waren. Hinter ihm warteten Robert und Annika. Warteten und sahen ihn an. Niemand sagte etwas, niemand nannte ihn einen Feigling. Sie warteten einfach und sahen ihn an. Stefan wich langsam zurück. Fast erstaunt über die eiskalte Angst, die plötzlich Spannung und Freude ersetzt hatte. Er hatte nicht geahnt, dass man solche Angst bekommen könnte. Dass man sich dermaßen fürchten könnte. Zitternd war er die alten Sprossen mit den rostigen Eisengriffen und den Querbalken aus Holz wieder hinuntergestiegen.
Unterwegs hatte er Robert und Anika lachen hören und kurz darauf einen heftigen Platscher, als Robert im Wasser gelandet war. Die Schande hatte sich wie eine giftige Blüte in ihm geöffnet. Sie lachten über ihn. Sie hielten ihn für ein Weichei. Das wusste er.
Das war alles.
Kein Drama, kein Spott. Nur ein Lachen, das sich vielleicht nicht einmal auf ihn bezog. Und doch hatte es schlimmer wehgetan, als ob er Prügel bezogen hätte, die Tatsache, dass jemand sich über seine Angst lustig machte.
Es war jetzt lange her. Die Zeit im Vorort war vorbei, und Stefan dachte selten daran zurück, aber der Albtraum verließ ihn nicht. Sie hatten damals in einem Reihenhaus mit einem eigenen kleinen Garten gewohnt. Ein Pflaumenbaum, der jedes Jahr unter der Frucht zusammenzubrechen drohte und dessen Zweige Stefans Vater immer wieder stützen musste. Vor dem Haus eine asphaltierte Sackgasse mit einer Wippe und einem Sandkasten und Kletterstangen, an die sich die Mädchen aus dem Wohnblock mit den Kniekehlen hingen oder um die sie sich drehten, immer wieder. Es gab auch einen Hang und einen kleinen Wald, wo man im Winter Schlittenfahren und im Sommer Verstecken spielen konnte.
Überhaupt war die Gegend ziemlich idyllisch.
Die Schule lag in einem gelben Klinkerbau aus den fünfziger Jahren. So eine, wie jeder Vorort von Stockholm eine hatte. Zwischen seinem zehnten und seinem fünfzehnten Lebensjahr war Stefan jeden Morgen mit dem Rad hingefahren. Dann hatten seine Eltern ihm ein Moped geschenkt. Er war durch die grauen Gänge gelaufen und hatte sich die scheußlichen Wandbilder angesehen, die Kinder vor langer Zeit, zu Beginn der siebziger Jahre, angefertigt hatten. Ein Gefühl der Unwirklichkeit hatte ihn erfüllt, als ob er eigentlich das Leben eines anderen lebte oder vielleicht nur in einem Film existierte, einem Film über sich selbst.
Er sehnte sich nach etwas anderem, wusste aber nicht, wonach. Vielleicht wartete er darauf, dass das eigentliche Leben anfing, dass etwas passierte, um dieses bohrende Gefühl von Unwirklichkeit zu verjagen.
Stefan war nie gemobbt worden. Er hatte in der Schule Kumpels gehabt, aber es war keine enge oder intensive Freundschaft gewesen. Zu Hause in der Reihenhaussiedlung gab es einen Nachbarsjungen, mit dem er sich ab und zu traf. Sie hörten sich selbst aufgenommene Kassetten an und lasen englische Musikzeitschriften, die am Zeitungskiosk im Einkaufszentrum Gallerian verkauft wurden.
Meistens aber war er allein.
Allein, wenn er durch den Vorort radelte, allein in seinem Zimmer, wenn er lernte oder Bücher las. Allein auf dem Gang in der Schule. Er wusste, dass die anderen ihn wie ein Ufo sahen. Dass sie ihn komisch fanden, seltsam.
In der Schule gab es drei Gruppen, denen man angehören konnte. Die langhaarigen, coolen Typen, die abends am See herumhingen, Bier tranken und mit coolen Mädchen mit Stufenfrisuren zusammen waren. Die Fußballfans, Mitglieder der Lokalmannschaft, die der Stolz des Vororts war, trainierten mindestens dreimal
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