Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
die Woche und redeten vor allem über die schwedischen und englischen Meisterschaften.
Und dann die Dussel. Die Missgeburten mit den trutschigen Klamotten und den Nickelbrillen, die auf dem Gang dicht nebeneinander liefen, um sich gegenseitig zu beschützen. Die in Mathe und Physik die besten Noten holten und im Schulorchester Tuba spielten.
Er selbst kam sich vor wie ein einsamer Satellit, er umkreiste die unterschiedlichen Gruppen, kam aber nie wirklich an sie heran, war nie dabei. Er fand es schrecklich. Er sehnte sich weg. Er sehnte sich danach, dazuzugehören, brachte es aber nicht über sich, so zu werden wie die anderen. Sich anzupassen. Also entschied er sich für die Einsamkeit. Seine Eltern wechselten besorgte Blicke, fragten, wie es ihm ging, aber er lachte nur, sagte, es sei schon okay. Er habe doch Tobias, den Nachbarn. Ihm fehle nichts.
Dann kam die magische Wende. Die alles veränderte. Der Umzug aus dem Reihenhaus in die Stadt. Die große Wohnung in der Rörstrandsgata. Und dann das Gymnasium. Die Schule in der Innenstadt, frei von den selbstverständlichen Gruppierungen und den vorherbestimmten Plätzen in der Hierarchie des Vorortes. Plötzlich wurde er ein anderer. Definierte sich selbst neu. Verwandelte sich von einem Sonderling in einen, der dazugehörte. Anders, der zu seinem besten Freund wurde, brachte ihn dazu, sich auf ganz neue Weise zu sehen. Dieses Gefühl, plötzlich einem anderen Menschen wirklich nahezustehen. Einem gleichaltrigen Menschen. Es war wie eine heftige Verliebtheit. Wie seine fehlende Hälfte zu finden. Wie einen Bruder zu bekommen.
Stefan hörte Schritte vor der Tür, knarrende Bodenbretter, die die Anwesenheit eines anderen Menschen ankündigten. Die Klinke wurde heruntergedrückt, und er sah die Silhouette seiner Mutter in der Türöffnung. Sie trug ihren rosa Morgenrock, und ihre blonden Haare waren zerzaust.
»Bist du wach, Stefan?« Ihre Stimme war sanft und ein wenig heiser. »Mir kam es so vor, als ob ich dich gehört hätte.«
»Ich habe geträumt.«
Stefan setzte sich im Bett auf und zog die Decke mit dem blaugeblümten Bezug um sich zusammen. Es war noch immer kalt im Zimmer. Seine Mutter kam herein und setzte sich neben ihm ins Bett, strich ihm über die Haare. Er war längst über das Alter hinaus, wo er aufgeschrien hatte, wenn sie versuchte, ihn zu umarmen. Jetzt gefielen ihm ihre Zärtlichkeitsbekundungen. Er roch ihr Parfüm und etwas anderes. Sie roch nach Mama. Geborgenheit und Kindheit. Rosinenbrötchen und Milch. Fast sofort überkam ihn ein Gefühl des Wohlbefindens.
»Alles in Ordnung mit dir? War das ein Albtraum?« Sie legte den Kopf schräg und sah ein wenig besorgt aus. Stefan konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Sie sah aus wie der Inbegriff der besorgten Mama.
»Ist schon gut. Wirklich. Nur ist im Moment so viel los, das Abi und die Prüfungen und alles. Wieso bist du denn schon auf? Müsstest du nicht schlafen?« Stefan musterte seine Mutter, sah ihr vertrautes Gesicht und die scharfe Furche zwischen den Augen, den hellblauen Augen.
»Da war ein Vogel. Der muss durch mein Fenster gekommen sein. Als ich aufwachte, lag er mit gebrochenem Genick auf der Fensterbank.« Sie schüttelte den Kopf und machte ein trauriges Gesicht. »Das war scheußlich. Weißt du noch, was dein Urgroßvater immer gesagt hat?«
»Wenn ein Vogel stirbt, stirbt auch bald ein Mensch?« Stefan erinnerte sich an den Urgroßvater, sehnig und grauhaarig, der in einem mit Samt bezogenen Sessel in der Seniorenwohnung in Kalmar saß. Krumm und gebückt und voller Schwänke über Kobolde und Trolle.
»Aber Mama, das ist doch nur Aberglaube.« Er streichelte ihren Handrücken, und sie schaute ihn an, legte den Kopf schief und lächelte.
»Willst du mich trösten, mein Junge?«
»Ja, sieht ganz so aus.« Auch Stefan lächelte und wurde von dem seltsamen Gefühl erfüllt, das dieser Rollentausch in ihm erweckte. Zärtlichkeit, gemischt mit einer beängstigenden Vorahnung von Erwachsenenwelt und Verantwortung.
»Schlaf jetzt. Es ist erst vier! Du kannst die Ruhe gut brauchen.«
Stefan legte sich wieder hin, und seine Mutter beugte sich über ihn, genau wie sie das getan hatte, als er noch klein gewesen war. Dann flüsterte sie »Gute Nacht« und verließ ganz leise das Zimmer. Ihre Anwesenheit aber war noch zu spüren, und Stefan merkte, wie die Ruhe sich in ihm ausbreitete. Er schloss die Augen. Nur noch einen Monat bis zum Abitur. Die weiße Studentenmütze lag
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