Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
geweint habe? Als ich die ganze Welt schwarz sah? Und jetzt das hier. Meine Nachforschungen im Dienste der Wahrheit.
Ich bin plötzlich erfüllt von tiefer Zärtlichkeit, aber auch Sorge um ihre Gesundheit. Rasch suche ich ihre Nummer heraus und rufe sie an. Sie klingt traurig, erzählt mit leiser Stimme, dass bei den Untersuchungen Fehler gemacht wurden und sie neue Proben nehmen müssen, um ein zuverlässiges Ergebnis zu erhalten. Aina ist davon überzeugt, dass sie die Proben ganz einfach verschlampt haben. Ich höre, wie sie sich die Nase putzt.
»Willst du zu uns kommen? Du kannst auf dem Dachboden schlafen.«
»Danke, Liebe. Aber ich hab eine Verabredung.«
»Eine Verabredung? … Aber du klingst doch total fertig.«
»Genau. Irgendwas muss mich doch aufheitern.«
Ein heiseres Lachen Es klingt nicht überzeugend.
»Na dann. Aber du weißt ja, du bist immer willkommen.«
Sie seufzt tief.
»Ich weiß, danke, Siri. Aber heute Abend will ich ficken.«
Der Mann vor mir ist klein und in sich zusammengesunken. Er erinnert mich an einen alten knorrigen Apfelbaum. Von Wind und Wetter gebeutelt, gebückt vom Lauf der Zeit und vom Gewicht seiner eigenen Krone, aber dennoch lebenskräftig und schön.
Rune hat Prostatakrebs im Endstadium. Er ist gekommen, um Bilanz zu ziehen, wie er sagt. Ich erkläre vorsichtig, dass ich keine Geistliche bin. Dass ich keine Vergebung oder Absolution gewähren kann, dass ich aber als Gesprächspartnerin fungieren kann, als Projektionswand für seine Gedanken und Überlegungen.
Rune nickt langsam mit seinem kahlen Kopf und schaut mich aus tief liegenden Augen an.
»Das hört sich doch wunderbar an«, sagt er. Etwas anderes habe er auch nicht erwartet. Und eine Geistliche will er auch nicht. Er hat nichts mit Religion und sonstiger Quacksalberei am Hut. Was er sucht, ist eine Gesprächspartnerin.
Ob ich das wohl sein könnte?
Ich nicke und lächele.
Rune lässt sich im Sessel zurücksinken, sichtlich erleichtert durch meine Mitteilung. Die knochigen Hände umklammern die Armlehne dermaßen, dass die Sonne fast durch die papierdünne vergilbte Haut zu dringen scheint. Große blauschwarze Flecken bedecken seinen Handrücken, die Spuren einer Kanüle.
Alter, denke ich. Krankheit. Wie bereitet man sich darauf vor? Und wie soll ich diesem Mann helfen können, der so unendlich viel länger gelebt hat als ich, der sicherlich Erkenntnisse besitzt, denen ich mich noch nicht einmal angenähert habe?
Jemand klopft an die Tür meines Sprechzimmers, und ich merke, wie in mir der Ärger hochsteigt. Ich will nicht gestört werden, wenn ich Klienten habe, das wissen doch alle. Marianne schaut durch den Türspalt. Ihre Haare stehen heute wie Borsten von ihrem Schädel ab. Sie schüttelt kurz den Kopf.
»Es tut mir so wahnsinnig leid, aber es ist sehr dringend. Kannst du eine Minute herauskommen, Siri?«
Ich sehe Rune an, der nickt und abwehrend seine magere fleckige Hand bewegt.
»Gehen Sie nur, liebes Kind. Ich habe es nicht eilig.«
»Marianne, kannst du vielleicht inzwischen einen Kaffee bringen?«
Marianne nickt kurz und verschwindet.
In Ainas Zimmer sitzt Caroline Helsén. Nasse, zerknüllte Papiertaschentücher sind um ihre Füße verstreut. Sie putzt sich geräuschvoll in einem neuen die Nase, als ich neben ihr in die Hocke gehe und ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter lege. Sie schluchzt, so heftig, dass sie nicht sprechen kann.
Ich richte mich auf. Ziehe Ainas Stuhl heran und setze mich neben Caroline. Warte auf sie, aber sie hört nicht auf zu weinen.
»Caroline, ich habe einen Klienten. Wir brauchen noch eine halbe Stunde. Wenn Sie warten können, reden wir nachher?«
Sie lässt das Taschentuch auf den Boden fallen und nickt. Das Taschentuch landet lautlos bei den anderen.
Dann sitzen wir in meinem Zimmer. Rune, der für einen Todgeweihten seltsam ausgeglichen wirkt, ist nach Hause in die Östgötagata zu seinem Dackel gegangen. Statt seiner sitzt Caroline mit rotgeweinten Augen in meinem Sessel und umklammert wie zuvor Rune mit ihren glatten bleichen Fingern die Armlehne.
Junge Hände, denke ich. Du wirst noch viele Jahre leben, Caroline, du musst diese Sache hier in Ordnung bringen.
»Sie kriegen ein Kind. Darius und diese … Nutte. Sie kriegen ein Baby. Aber wir waren das doch, die eine Familie gründen wollten. Und jetzt …«
»Einen Moment bitte. Können Sie erzählen, was passiert ist? Wie haben Sie es erfahren?«
Sie nickt stumm, und die Tränen fließen
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