Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
Sie!«
Ich stehe auf und mache einen Schritt auf sie zu, aber sie hat schon die Tür geöffnet und läuft zum Ausgang. Draußen steht Marianne, die Hände in die Hüften gestemmt, der Blick so leer wie der Kühlschrank in der Teeküche. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass sie uns belauscht hat.
»Was?«, fauche ich sie an. »Du hast meine Gespräche nicht zu belauschen.«
Sie weicht mit verängstigter Miene zurück, und jetzt sehe ich, was sie in der Hand hält.
»Ich wollte nur … deine Klientin hat den Schuhüberzug vergessen«, murmelt sie.
Ich stehe im Wald vor unserem Haus. Die Finsternis hinter mir ist kompakt, aber das gelbe Licht der Fenster leuchtet den Schnee vor mir an. In der Wärme wartet Markus mit dem Essen. Ich habe beschlossen, noch ein Telefongespräch zu führen, ehe ich hineingehe. Habe beschlossen, dass dieses Gespräch zu wichtig ist, um es bis morgen aufzuschieben.
Das Display leuchtet in der Dunkelheit, und die Kälte beißt mir in die Finger, als ich die Nummer wähle. Er meldet sich nach drei Klingeltönen.
»Ja, hier ist Ulrik.«
»Hallo, hier ist Siri Bergman. Wir haben uns ja kürzlich erst getroffen. Ich bin die, die mit Stefan verheiratet war.«
Auf der anderen Seite folgt ein langes Schweigen. »Siri?«
»Ja, ich wollte nur dafür danken, dass du dir die Zeit für das Gespräch genommen hast.«
»Das war ja wohl das Mindeste, was ich tun konnte.«
Er klingt abwartend. Ich überlege mir, dass es vielleicht einen seltsamen Eindruck macht, dass ich ihn wieder anrufe, abends spät, ohne tieferen Sinn. Ich beschließe, gleich zur Sache zu kommen.
»Ich habe mich mit der Zeugin aus dem Park getroffen. Dem Mädchen, das vor fünf Jahren gesehen hat, wie Anders ermordet wurde.«
»Ach.« Er klingt noch immer reserviert, aber vielleicht auch ein wenig neugierig.
»Sie heißt Anna Kantsow, wohnt hier in Stockholm. Sie war damals, 2005, nicht so ganz bei sich, jetzt scheint sie ihr Leben aber im Griff zu haben. Sie geht aufs Gymnasium. Aber egal, sie hat gehört, dass der Mörder etwas zu Anders gesagt hat.«
»Wie heißt sie, hast du gesagt?«
Plötzlich bereue ich es. Vielleicht hätte ich ihren Namen nicht erwähnen sollen. Soviel ich weiß, ist sie doch die ganzen Jahre lang anonym gewesen.
»Wie sie heißt, spielt eigentlich keine Rolle. Interessant ist, was sie gesagt hat.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Sie hat gesagt, verzeih mir. Verzeih mir, Nisse.«
Pause.
»Kannst du das wiederholen?«
»Verzeih mir, Nisse. Sagt dir das irgendwas?«
Wieder schweigt er. Ich höre seine Atemzüge durch die Leitung. Hinter dem Küchenfenster kann ich Markus sehen, der sich über das Spülbecken beugt. Plötzlich habe ich wahnsinnige Sehnsucht nach dem Haus, nach der Wärme, nach Markus und Erik. Nach dem Leben, das ich heute habe. Ohne Dämonen und frei von der Vergangenheit, die meine Träume heimsucht.
»Nein, tut mir leid. Das sagt mir gar nichts. Ich kenne keinen Nisse oder Nils.«
Abermals Schweigen. Ich trampele im Schnee mit den Füßen, um wärmer zu werden, aber die Zehen fühlen sich in meinen schweren Stiefeln wie kleine Eisbrocken an.
»Bist du noch da?«, frage ich.
»Ja«, sagt er. »Aber ich kann dir nicht helfen.«
Auf dem Herd wird Chili con carne warm gehalten. Markus sitzt am Küchentisch vor dem Computer, und nur das Knistern des Herdes ist zu hören.
»Er schläft«, sagt er, ohne aufzuschauen.
Ich gehe zu ihm, bücke mich und küsse seine stoppelige Wange.
»Wie war dein Tag?«
Er reckt sich und reißt den Blick vom Bildschirm los. Ich ahne etwas Düsteres in seinen Augen.
»Der war gut. Aber du hast uns hier gefehlt, Erik und mir.«
Ich gehe neben ihm in die Hocke, fahre mit den Händen durch seine blonden Haare, ziehe ihn zu mir und küsse ihn sanft und feucht.
»Verzeih mir, ich bin hoffnungslos. Ich hatte nur so verdammt viel Arbeit. Aina ist ja nicht in Form, wie du vielleicht verstehst. Ich musste einige von ihren Klienten übernehmen. Sag, dass du das verstehst.«
Er seufzt, umarmt mich halbherzig.
»Klar verstehe ich das. Essen steht auf dem Herd.«
So leicht ist es also zu lügen, denke ich. Nicht schwerer, als einen Kaffee zu bestellen. Und plötzlich weiß ich, dass etwas in mir dabei ist, sich für immer zu verändern.
Ich stehe im Schneematsch vor dem Haus von Mikael Arvidsson im Amorväg auf Lidingö, dem Haus, das er mit seiner Mutter Agneta teilt. Eine bleiche Sonne scheint über dem Wohnviertel, das vor allem aus Häusern
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