Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
hab ich die Polizei angerufen. Ich versuchte, das anonym zu machen, aber sie haben mich überredet, zu ihnen zu kommen. Als Marko davon erfuhr, war er sofort verschwunden. Ich glaube, er ist nach Estland oder so gegangen.«
»Hat die Polizei sich denn für ihn interessiert? Dachten sie, er könnte mit der Sache zu tun haben?«
»Nein, natürlich nicht. Er hatte nichts damit zu tun, aber die kapierten ja gleich, was wir für eine Beziehung hatten und dass ich von ihm Drogen bekam. Und sofort waren Sozialamt und Jugendamt mit im Spiel. Und die Polizei hat ihn gesucht. Für die war er doch pädophil.«
»Haben Sie je wieder von ihm gehört?« Ich weiß nicht, warum ich das frage. Dieser Marko klingt kaum wie ein Tugendbold und nicht wie jemand, den man im Kontakt mit einer Fünfzehnjährigen sehen möchte. Aber Anna lächelt plötzlich und sieht etwas munterer aus.
»Doch, er hat eine Mail geschickt. Sagte, was er getan hatte, tue ihm leid. Er wisse, dass es falsch gewesen sei, aber er habe es nicht lassen können, weil er so in mich verliebt war. Und er sagte, ich würde immer einen Platz in seinem Herzen haben. Lauter Scheißgerede, natürlich. Aber mir war trotzdem besser zumute.« Sie zuckt mit den Schultern und lächelt wieder. »Sie müssen verstehen, dass ich kein Opfer bin. Ich war damals keins, und jetzt bin ich auch keins. Ich habe meine eigenen Entscheidungen getroffen und wurde nicht gezwungen. Ich wollte ihn wirklich. Aber dann kam das Jugendamt, und meine Eltern wurden in die Sache hineingezogen, und alles war nur noch scheußlich. Schmutzig. Ich wurde zu einem missbrauchten Kind. Das Gerücht ging in der Schule herum wie ein Lauffeuer. Ich hätte Drogen genommen und sei vergewaltigt worden. Meine beste Freundin wurde von ihren Eltern von der Schule genommen, weil sie nichts mehr mit mir zu tun haben sollte. Dass sie danach mit der halben Schule gefickt hat …«
Sie verstummt und tippt sich an die Stirn, um zu zeigen, wie irrsinnig sie das alles findet.
»Und Ihre Eltern, Ihr Vater?«
»Dem geht es jetzt gut. Offenbar konnten sie alles rausholen. Er hatte Dickdarmkrebs und hat seither so einen Beutel auf dem Bauch. Aber er lebt. Und das ist das Wichtigste.«
»Und Sie?«
»Ich?« Sie lacht auf, als sei sie erstaunt über diese Frage. »Mir geht es gut. Ich hab dann auch die Schule gewechselt. Jetzt bin ich auf dem Gymnasium, im vorletzten Jahr. Ich habe Sozialkunde mit Schwerpunkt Jura als Leistungskurs. Später möchte ich Jura studieren. Ich bin gut in der Schule. An drei Tagen in der Woche jobbe ich hier auf Söder. Allen geht es gut. Ende der Geschichte. Wollen Sie nicht danach fragen, was Sie wirklich wissen wollen? Denn Sie sitzen hier ja wohl nicht seit fast einer Stunde herum, um sich meine Lebensgeschichte anzuhören. Sie wollen wissen, was ich gesehen habe. Nicht, wer ich bin.«
Das sagt sie ganz nüchtern. Ohne Sentimentalität.
»Werden Sie das erzählen? Was Sie an dem Abend damals gesehen haben?« Ich spüre, wie sich mein Magen vor Spannung zusammenkrampft. Anna hat etwas gesehen. Einen Mord. Ein Opfer und einen Täter.
»Sie müssen sich klarmachen, dass ich zugedröhnt war. Ich hatte Hallus, meine Beine sahen aus wie Spaghetti, und ich habe überall Lichter und Sterne gesehen. Ich dachte, ich würde von einem Mörder mit einem Samuraischwert verfolgt, und das war ja nun nicht so ganz der Fall. Ich habe den gesehen, der es getan hat, aber ich kann nichts darüber sagen, wie er aussah. In meiner Welt war er ein Riese. Fünf Meter groß. Ein schwarzer Schatten. Wie diese Bösen bei Herr der Ringe . Ich habe keine Ahnung, wie er aussah oder wie er angezogen war, nur dass seine Kleider dunkel waren.«
»Aber hat er etwas gesagt? Haben sie miteinander gesprochen?«
»Ich weiß nur, dass er Schwede war und ohne Akzent sprach. Und dass es ein Er war. Also ein Mann, meine ich. Keine Frau. Er hatte eine tiefe Stimme.«
»Sie haben also miteinander gesprochen?« Meine Stimme klingt jetzt eifrig, obwohl ich weiß, dass sie von mehreren Polizisten befragt worden ist, die ihr aber keine sinnvolle Information entlocken konnten.
»Er hat geredet. Hat sich über den anderen gebeugt. Hat um Verzeihung gebeten, total krank. Schießt den Typen über den Haufen und bittet dann um Verzeihung.«
»Was genau hat er gesagt?«
Sie lacht los. »Also wirklich, eine Menge clevere Polizisten hat versucht, das zu begreifen. Warum er gesagt hat, was er gesagt hat. Aber das schafft niemand. Warum sollte
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