Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
aus den vierziger und fünfziger Jahren besteht. Familie Arvidssons Haus liegt versteckt hinter riesigen Thujen und überwucherten Rhododendronsträuchern. Ein weißes Klinkerhaus mit braunem Schnitzwerk. Anders als bei den Nachbarhäusern ist die Einfahrt nicht vom Schnee freigeräumt, nur ein kleiner Trampelpfad führt vom Briefkasten zu der massiven Eichentür.
Ich habe versucht, Mikael anzurufen, um ihn daran zu erinnern, dass wir für Freitag verabredet sind, und damit er einen Zeitpunkt vorschlägt, aber ich konnte ihn nicht erreichen. Am Ende beschloss ich dann, trotzdem zu ihm zu fahren. Ich weiß ja noch, was Ulrik Lindin gesagt hat; dass Micke ein Eigenbrötler ist, dass er trinkt und noch immer bei seiner Mutter wohnt. Vielleicht ist er keiner, der gern ans Telefon geht, vielleicht ist es besser, ganz einfach hinzufahren und anzuklopfen.
Langsam folge ich dem Pfad zur Haustür, zögere eine Sekunde, dann drücke ich auf die Klingel. Jetzt wird es sich entscheiden. Wenn Mikael nichts erzählen kann, das weiterhilft, habe ich mir geschworen, dass ich aufhören werde. Dass ich mit dem Leben, das ich habe, weitermachen und akzeptieren werde, dass ich niemals erfahren werde, welchen Zusammenhang es zwischen Leben und Tod von Anders und Stefan gegeben haben mag. Doch nun wird die Tür einen Spaltbreit geöffnet.
»Ja?«
Vor mir steht eine Frau von Mitte sechzig. Ich kann kaum glauben, dass es dieselbe Frau ist, die Ulrik Lundin mir beschrieben hat: die sexy Mutter, die bei Mickes Kumpels so heiße Gefühle erregt hat. Die Frau im Eingang erinnert mich auf seltsame Weise an die Figuren, die entstehen, wenn man ein Blatt Papier zusammenfaltet und mehrere Personen jeweils einen Teil zeichnen lässt. Die Körperteile scheinen nicht zueinander zu passen. Seltsam magere Arme und Beine wirken wie angeheftet an einen riesigen aufgequollenen Bauch. Die Haut ist von der Sonne dunkel gebrannt, übersät mit Altersflecken und runzelig wie Pergament. In einem Mundwinkel hängt eine Zigarette und trotzt der Schwerkraft, als wäre sie an den runzligen Lippen angeklebt. Die Frau trägt eine enge Lederhose und einen Pullover mit einem riesigen Peace-Zeichen aus Pailletten auf der Brust.
»Wir haben kein Interesse«, sagt sie heiser und kneift die Lippen um die Zigarette zusammen, noch ehe ich meinen Spruch aufsagen kann.
Hinter der Tür höre ich Gebell. Gleich darauf taucht neben Agnetas mit Leder bedeckten Beinen der winzigste Hund auf, den ich je gesehen habe.
»Warten Sie.« Ich hebe die Hand. »Ich will zu Micke. Er weiß, wer ich bin. Ich war mit einem seiner Freunde aus Schulzeiten verheiratet, Stefan.«
Die Frau zieht energisch an der Zigarette und schaut mich aus zusammengekniffenen Augen an.
»Steffe«, murmelt sie und drückt die Zigarette an der Wand aus, sodass auf dem weiß gestrichenen Klinker ein kleiner schwarzer Fleck entsteht.
Ich nicke stumm, hoffe, dass das nicht gegen mich spricht.
»Stefan Bergman?« Sie sieht zufrieden aus, weil ihr der Name eingefallen ist. Dann erstarrt sie. »Aber ist der nicht …?«
»Tot. Doch. Ich bin seine Witwe. Und ich würde gern kurz mit Micke über ihn reden.«
Sie scheint sich ein wenig zu lockern, zuckt mit den Schultern, tritt einen Schritt zurück und öffnet die Tür. Ich gehe hinein, kaum darauf vorbereitet, was mich erwartet. Die Diele ist vollgestopft mit Müll und alten Kleidern. Leere Flaschen und Bierdosen drängen sich wie stumme Zuschauer an den Wänden. Als Agneta Arvidsson ins Wohnzimmer schwankt, sehe ich, dass sie ein Glas in der Hand hält. Es hat große Ähnlichkeit mit einem Cocktail. Sie schwankt ein wenig, dreht sich um, hebt das Glas und schüttelt es, sodass die Eiswürfel klirren.
»Darf man vielleicht etwas anbieten?«
»Nein, danke. Ich fahre.«
Aber sie scheint meine Antwort nicht zu hören. Ist schon unterwegs zu der Treppe auf der anderen Seite des Zimmers. Zögernd fasst sie das Geländer, als müsse sie sich festhalten, um nicht zu stürzen, und ich denke, dass das wohl auch der Fall ist.
»Miiiicke«, ruft sie, »Besuch für dich.« Sie wartet einige Sekunden, beugt sich vor und hängt über dem Geländer, sodass ihr dicker Bauch fast ihre Knie streift. »Miiiiicke, Männlein. Aufwachen.«
Aus dem Kellergeschoss sind Geräusche zu hören. Stöße, ein Stuhl, der verschoben wird. Dann Schritte, die näher kommen.
»Was ist denn los?«
Auf der Treppe sehe ich einen kräftigen Mann mit halblangen ergrauten Haaren und einer
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