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Bevor du stirbst: Roman (German Edition)

Bevor du stirbst: Roman (German Edition)

Titel: Bevor du stirbst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Grebe , Åsa Träff
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fielen.
    »Ich höre nichts«, sagte der Waldschrat und tippte mit dem Zeigestock Mickes Schulter an.
    »Nein«, flüsterte Micke. »Nein«, sagte er dann. Lauter diesmal.
    Ohne ein Wort riss der Waldschrat den Zettel an sich, las schweigend. Stefan blinzelte. Wenigstens stand nichts Verbotenes drauf, dachte er.
    Langsam riss der Waldschrat das Papierstück in winzige Fetzen. Die rieselten wie Schneeflocken zu Boden. Die Stille war total.
    »Dann kann Arvidsson der Klasse vielleicht mitteilen, welche Farbe die Blume haben würde, wenn sie eine rote Erbanlage besäße?«
    »Rot«, antwortete Micke mit klarer Stimme. »Sie wäre rot. Da Rot dominant ist, wäre eine andere Farbe nicht möglich.«
    Der Waldschrat gab keine Antwort. Stefan vermutete, dass es auch nicht viel zu sagen gab. Micke war die Koryphäe in allen naturwissenschaftlichen Fächern. Nicht einmal der Waldschrat konnte ihm Fehler nachweisen. Deshalb lief der Lehrer vor der schwarzen Tafel im Kreis hin und her. Zog sich die Strickjacke über den Schmerbauch.
    »Und in diesem Fall? Wenn wir diese beiden Exemplare kreuzen?« Er knallte mit der Kreide gegen die Tafel, dass der weiße Staub nur so aufstob. »Welche Farbe haben die neuen Blüten dann, Arvidsson?«
    »Drei von vier wären weiß.«
    »Ja. Und die übrigen fünfundzwanzig Prozent?«
    »Rosa«, antwortete Micke, ohne eine Sekunde zu zögern.
    Die ganze Klasse hielt den Atem an. Der Verkehr auf der Birger Jarlsgata war jetzt deutlich zu hören. Der Waldschrat nahm den Zeigestock in beide Hände und schob den Unterkiefer vor, was ihn wie einen Raubfisch aussehen ließ.
    »Nein«, sagte er.
    »Nein?«, wiederholte Micke verdutzt.
    »Du hast gehört, was ich gesagt habe. Die werden nicht rosa.«
    »Aber«, murmelte Micke, und der Bleistift fiel aus seinen schmalen blassen Fingern auf den Tisch. »Die müssen doch rosa werden.«
    Jetzt stand der Waldschrat vor ihm. Lächelte strahlend, zeigte wohlgeformte, aber gelbliche Zähne oberhalb des Bartes.
    »Die werden nicht rosa. Die werden zyklamrot.«
    Pause.
    »Aber?« Micke war verwirrt. Sah sich unsicher um, erwiderte Stefans Blick. »Das ist doch wohl dasselbe?«
    »Nein«, antwortete der Waldschrat kurz. »Das ist nicht dasselbe.« Dann machte er kehrt, schlurfte zum Pult zurück und setzte sich gelassen hin.
    Verwirrung breitete sich in der Klasse aus. Stefan rutschte hin und her, schielte zu Anders hinüber, der starr neben ihm saß. Sein Hals hatte sich gerötet, und Stefan konnte sehen, dass die großen sommersprossigen Hände zu Fäusten geballt auf seinen Knien lagen. Dann stand Anders langsam auf. Blieb wortlos stehen, seine Fäuste hingen an seinen Seiten nach unten.
    Bewusst langsam schaute der Waldschrat auf.
    »Ja?«
    »Jetzt machen Sie mal einen Punkt. Rosa und zyklamrot ist doch dasselbe. Das wissen Sie genauso gut wie wir.«
    »Nein«, sagte der Waldschrat, setzte die Brille auf und fing an, auf dem Pult in seinen Papieren zu blättern.
    »Sie sind ein jämmerlicher Schwächling. Und Sie nutzen jede Gelegenheit, um uns fertigzumachen.«
    Anders sprach langsam und mit klarer Stimme. Er betonte jedes Wort gleichermaßen, als läse er traurige Tatsachen vor, pflichtbewusst, aber gleichgültig, fast mechanisch. »Sie rä chen sich an uns, weil Sie ein erfolgloser Spießer sind und ein sinnloses Leben führen. Weil Sie nie vögeln können. Hab ich recht?«
    Der Waldschrat erstarrte, erhob sich überaus langsam. Schleuderte dann den Zeigestock zu Boden.
    »Holmberg, raus. Sofort! Hast du nicht gehört?« Er zeigte mit zitternder Hand auf die Tür, aber Anders rührte sich nicht vom Fleck.
    Ein kratzendes Geräusch erklang hinten in der Klasse. Stefan drehte sich um. Ulrik schob langsam seinen Stuhl zurück und erhob sich. Er sah mager aus in dem viel zu großen schwarzen Hemd. Seine Kiefer wirkten verbissen, als ob er soeben etwas Bitteres gegessen hätte.
    Ohne weiter darüber nachzudenken, beugte Stefan sich vor, stützte die Hände auf den Tisch und stemmte sich langsam hoch. Der Stuhl kippte nach hinten um und knallte auf den Boden. Dreißig Augenpaare richteten sich auf ihn, aber niemand sagte etwas.
    Das Gefühl war wieder da. Stärker als zuvor. Das Gefühl, unterwegs zu etwas anderem zu sein, etwas Größerem. Dass das, was in dem heruntergekommenen alten Biologiesaal vor sich ging, keine Rolle mehr spielte. Dass der Waldschrat bereits tot und begraben und vergessen sei. Dass er selbst im Gras im Eriksbergspark sitze und spüre, wie

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