Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
gleichgültig.
»Er hat gesagt, Nisse. Verzeih mir, Nisse. Sagt dir das et was?«
Langsam schüttelt er den Kopf, und für einen Moment heben sich die grauen Strähnen von seinen Schultern.
»Hab nie von irgendeinem Nisse gehört. Bist du sicher, dass du keinen Schnaps willst?«
Stockholm 1988
»So. Die Blüte ist also weiß. Und da Rot eine dominante Erbeigenschaft ist, kann sie keine roten Eigenschaften besitzen, denn dann wäre sie … was?«
Der Waldschrat richtete seine dunkel unterlaufenen Augen auf Hanna, die sofort rot wurde und an einem Fingernagel herumnagte.
»Wie meinen Sie das?«, brachte sie heraus, noch immer mit dem Finger im Mund.
»Wenn die Blüte eine rote Erbanlage hätte – die dominante Eigenschaft –, welche Farbe hätte sie dann?«
Der Waldschrat trat vor, ging von der schwarzen Tafel weg auf Hanna zu, klopfte mit dem Zeigestock auf ihren Tisch, legte die Stirn in tiefe Falten und fuhr sich durch den buschigen schwarzen Bart.
»Orange?«
Der Zeigestock verharrte eine Sekunde auf der Höhe von Hannas Nase. Im nächsten Augenblick schlug er mit voller Kraft auf ihren Tisch, sodass die Seiten des Biologiebuches aufflatterten. Hanna fuhr zusammen. Stefan drehte sich diskret zu Anders um, der links von ihm saß. Anders hob fast unmerklich die Augenbraue.
Eine ganz normale Biologiestunde in dem alten Schulgebäude in der Birger Jarlsgata in Stockholm. An der schwarzen Tafel hatte der Waldschrat, ihr Lehrer, versucht, die Grundprinzipien der Genetik darzustellen. Durch die Glastür der Abstellkammer hinter dem Pult waren alte gerahmte Schau bilder von Blumen, Pilzen und Tieren zu sehen, die an der Wand lehnten. Ein Skelett stand ganz hinten in der Dunkelheit und sammelte Staub. Glasgefäße mit Formalin und Schweineföten in unterschiedlichen Entwicklungsstadien drängten sich in den Regalfächern des dunklen Raumes. Gerüchte behaupteten, der Waldschrat habe auch ein in Formalin eingelegtes Menschenherz, aber mit eigenen Augen hatte Stefan das nicht gesehen.
»Das war eine außerordentlich unbegabte Antwort«, sagte der Waldschrat und beugte sich über Hannas Tisch, sodass sein Gesicht nur einige Dutzend Zentimeter von ihrem entfernt war. »Aber absolut logisch im Hinblick auf deine mageren Leistungen früher in diesem Schuljahr, was sich auch in deinem Abiturzeugnis zeigen wird.«
Hanna legte den Kopf in den Nacken und sah ihn mit einer Mischung aus Resignation und Angst an. Ein vages Gefühl der Wut breitete sich in Stefan aus. Er war nie einer gewesen, der die Schule hasste, der Lehrer oder Streber verachtete, die sich zu diesem Spiel herabließen und sich widerspruchslos den Launen der Lehrer unterwarfen. Im Gegenteil, er fand die meisten Fächer interessant und mochte die Lehrer leiden. Beim Waldschrat aber war das anders. Ab und zu fragte Stefan sich, ob der Mann wirklich durch und durch böse war, ob ihm seine Machtspiele eine Art kranke Befriedigung brachten. Ob ihm das einen Ständer bescherte.
Draußen schien die Sonne. Die Bäume auf dem Jarlaplan waren hellgrün, soeben erst ausgeschlagen. Im Erikspark, unterhalb des mächtigen Gebäudes des Zimmermannsordens, blühten die Osterglocken, und der wilde Wein an den Mauern hatte jetzt kleine rotbraune Blätter, die mit jedem Tag wuchsen. Bald würde das alles vorüber sein. Er würde nicht mehr den karierten Steinboden abnutzen, nie mehr neben den beiden Statuen in der Eingangshalle stehen und auf die anderen warten. Bald würde er weit weg von hier sein, unterwegs ins wirkliche Leben. Und dann würde niemand ihn mehr schikanieren können.
Der Waldschrat dagegen würde hierbleiben.
Das war ein tröstlicher Gedanke.
Ein diskretes Tippen gegen seinen Arm. Anders schob ihm einen Zettel mit gekritzeltem Text hin.
»Wir gehen dann zu Lindquist?«
Er drehte sich zu ihm um und nickte. Schob zuerst den Zettel vorsichtig weiter nach rechts, wo Micke saß, in sich zusammengesunken mit dem gelben Bleistift zwischen Zeigefinger und Mittelfinger wie eine Zigarette. Die Sonne schien durch die schmutzigen Fensterscheiben, zündete kupferrote Flammen in Mickes Haaren an, als er sich vorsichtig vorbeugte und den Zettel entgegennahm. Er las, dann nickte er rasch.
»Arvidsson«, schrie der Waldschrat. »Was hatten wir über Zettelschreiben während des Unterrichts gesagt? Vielleicht möchtest du dem Rest der Klasse den Inhalt kundtun?«
Micke erstarrte und schüttelte dann so heftig den Kopf, dass ihm die Haare über die Augen
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