Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
Zeitraums tief und innig trauert. In dieser Zeit ist die Umgebung verständnisvoll und hilfsbereit. Danach soll man schrittweise – und ich vermute, dass mir das misslungen ist – das loslassen, was man zuvor geliebt hat. Auf unsicheren Bambi-Beinen soll man sich dann abermals ins Leben hinausbegeben, nach und nach von allen Möglichkeiten der Zukunft geblendet werden und das Vergangene verblassen lassen, bis nur noch eine schmerzlose Erinnerung übrig bleibt. So ungefähr wie eine gepresste Blume, schön, harmlos, etwas, das man in ein dickes verstaubtes Album steckt, um es ab und zu hervornehmen und über die Schönheit des Verflossenen staunen zu können.
Menschen, die sich weigern, die Erinnerung loszulassen, ihren eigenen Schmerz, die ihn pflegen wie eine empfindliche Pflanze, erwecken in ihrer Umgebung Abscheu und Unbehagen. Meine Trauer oder Caroline Helséns Trauer sind nicht mehr schön oder auch nur pikant und interessant. Sie sind nur widerlich und beängstigend. Beschämend. Sie müssen totgeschwiegen werden, vor der Umwelt versteckt oder vielleicht durch Medikamente getilgt werden.
Ich denke über Vijays Worte nach, dass er glaubt, man könne durchaus mit einem Menschen zusammenleben, ohne ihn zu kennen. Habe ich vergessen, wie Stefan war? Die Erinnerung an ihn hat angefangen zu verblassen, wie ein altes Polaroidfoto. Ich merke fast, wie es geschieht. Es ist, als werde das Vergangene mit jedem Tag, der vergeht, schwerer greifbar.
Aber habe ich Stefan denn richtig gekannt, damals, als er noch lebte? Kennt man einen anderen Menschen jemals durch und durch?
Ich weiß es nicht mehr. Und das macht mir zu schaffen. Denn wenn ich Stefan nicht gekannt habe, muss das bedeuten, dass ich mich auch auf keinen anderen Menschen verlassen kann.
Dass das Leben selbst unzuverlässig ist.
Ich stelle den Wagen im Wald ab und gehe das kurze Stück durch den Tannenwald zum Haus zu Fuß. Die Fenster leuchten einladend, ich ahne das Geräusch des Fernsehers, höre die Anfangsmelodie der Teletubbies, die sich zwischen den Tannen ihren Weg sucht.
Sowie ich die Tür öffne, sehe ich, dass etwas nicht stimmt. Zwei Taschen stehen gepackt auf dem Boden in der Diele. Markus kommt aus der Küche, wischt sich die Hände an einem Geschirrtuch ab.
»Was ist das denn hier?«, frage ich und zeige auf die Reisetaschen.
Er zögert.
»Erik und ich fahren für eine Weile zu Mama und Papa.«
Dann knüllt er das Geschirrtuch zusammen und wirft es in die Küche. Ich bringe keine Antwort heraus.
»Ich habe mir das lange überlegt. Ich weiß nicht, was mit dir los ist, Siri. Sicher, ich verstehe ja, dass es wichtig für dich ist herauszufinden, was mit Stefan passiert ist, aber du bist doch total … besessen. Du vernachlässigst mich und Erik, um in diesem Dreck zu wühlen. Ich muss nachdenken, brauche Abstand. Ich bring das hier nicht mehr.«
Im Wohnzimmer kann ich Erik singen hören.
Ich sinke auf dem alten Holzstuhl neben dem Schuhregal in mich zusammen. Streife die Jacke ab, bleibe aber sitzen. Bringe es nicht über mich, die Stiefel aufzuschnüren.
»Wie lange bleibt ihr weg?«
»Eine Woche. Glaube ich. Ich brauche Zeit zum Nachdenken. Wenn du mich vor zwei Monaten gefragt hättest, hätte ich gesagt, dass mein Leben perfekt ist. Jetzt …«
Er beendet den Satz nicht, presst nur die Zähne aufeinander, verschränkt die Arme vor der Brust und schaut ins Wohnzimmer.
»Mama und Papa freuen sich jedenfalls sehr auf Erik. Für ihn wird das schön werden«, murmelt er.
Ich ahne Tränen in seiner Stimme und nicke stumm.
Dann wühlt er in seiner hinteren Hosentasche, zieht einen zerknüllten Zettel hervor und hält ihn mir hin.
»Ich habe für dich gesucht. Ich hoffe wirklich, dass es dir weiterhilft. Stefan ist in keinem Vorstrafen- oder Verdachtsregister zu finden. Aber es gibt ihn im Allgemeinen Ermittlungsregister. Er und ein Freund namens Ulrik sind 1988 vernommen worden, als ein Junge namens Nicklas Swan vermisst gemeldet wurde. Hier steht alles.«
Dann reicht er mir den zusammengeknüllten Zettel und geht in die Küche und lässt mich auf dem Stuhl sitzen.
Dort sitze ich noch immer, als Markus und Erik bald darauf aufbrechen. Markus sagt zu Erik, er solle mir einen Kuss geben, und das tut er. Glücklich drückt er sein Gesichtchen an meins, und das tut so weh, so greifbar weh, dass ich mich fast zusammenkrümme. Von Markus bekomme ich keinen Kuss, nur einen Blick, der alles sagt.
»Ich rufe an.«
Ich kann nur nicken.
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