Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
ein Kostenfaktor ist.
»Wir finden eine Lösung, Aina. Wir suchen noch jemanden. Wir können das Zimmer vermieten. Und das mit den Gehältern schaffen wir auch. Das findet sich schon.«
Ich klinge optimistischer, als ich mich fühle. Es fällt mir schwer, mir die Praxis ohne Sven vorzustellen, und ich weiß, dass er mir fehlen wird. Zugleich bin ich überraschend gleichgültig. Als ob nichts von dem, was hier passiert, wirklich eine Rolle spielt.
»Aber du kommst doch sicher weiterhin her?« Marianne klingt verwirrt. »Du arbeitest doch hier. Wo sollst du denn sonst arbeiten?«
»Marianne, ich werde mit der Arbeit aufhören. Ich gehe in Rente.« Sven beugt sich zu Marianne vor und schaut ihr in die Augen. Sekunden verstreichen, und Marianne starrt zurück. Dann verzieht sie wütend das Gesicht und stampft mit dem Fuß auf dem Boden auf wie ein kleines Kind.
»Nein. Sven. Du darfst nicht aufhören. Ohne dich ist das hier nicht dasselbe. Nicht dasselbe.«
Heute muss ich keinen Terminplan einhalten. Kein Erik muss aus der Kita abgeholt werden. Obwohl sich schon längst die Dunkelheit über den Medborgarplatz gesenkt hat und Marianne nach Hause gegangen ist, sitze ich noch immer vor dem Computer in der Praxis.
Das Internet ist eine phantastische Erfindung, denke ich wieder. Ein Klick und es gibt Informationen über fast alles, was man wissen will, und über vieles, das man durchaus nicht wissen will. In welche Kategorie mein neues Wissen über Nicklas Swan gehört, kann ich nicht sofort entscheiden. Aber ich habe so ein Gefühl, dass das, was ich lese, nichts Gutes mit sich bringen wird.
Es ist immer besser zu wissen, als im Ungewissen zu leben.
Ich erinnere mich an meine Worte, selbstsicher ausgesprochen, in diesem Zimmer hier, und mir schaudert.
Langsam scrolle ich über den Schirm, klicke den Artikel in Dagens Nyheter vom Juni 1988 an.
»Die Polizei hat noch immer keine Spur des sechzehn Jahre alten Nicklas Swan, der am Freitagabend von einem Fest in Stockholm verschwunden ist. Weder Freunde noch in der Umgebung wohnende Zeugen konnten irgendwelche Hinweise geben …« Rasch überfliege ich weitere Artikel. Die Überschriften füllen den Bildschirm: »Taxifahrer als Zeuge im Fall Nicklas Swan …« und »Polizei sucht im Värtahamn nach dem verschwundenen Sechzehnjährigen«.
Ich klicke mich weiter durch, finde eine Website namens nicklasswan.se und sehe einen lächelnden Jungen mit blonden, fast weißen halblangen Haaren und einem Ring im Ohr. Er hat die Hand zu einem Gruß erhoben. »Wir werden dich nie vergessen«, steht unter dem Bild.
Meine Hände zittern, als ich den Text lese. An einem ganz normalen Freitagabend im Sommer 1988 verschwindet Nicklas Swan von einem Fest im Värtaväg in Stockholm. Er sagt zu seinen Freunden, er wolle nur kurz etwas holen, und sie nehmen an, er wolle Nachschub an Bier besorgen.
Nun schreibt die Betreiberin der Website, offenbar Nicklas’ Mutter, wenn Nicklas also Alkohol oder Drogen holen wollte und jemand etwas weiß, dann könnten unter der unten angegebenen Mailadresse anonyme Hinweise hinterlassen werden.
Ich lese weiter. Nicklas verlässt das Fest gegen 21 Uhr und ist danach spurlos verschwunden. Ungefähr eine Woche darauf meldet sich ein Taxifahrer und gibt an, Nicklas zum Värtahamn gefahren zu haben, doch dort endet die Spur. Die Polizei durchkämmt die Bucht, und Hunde durchsuchen die Umgebung, zu Land und zu Wasser. Bald darauf findet die Polizei den Mann, der mit dem Taxifahrer zum Värtamhamn gefahren ist. Es war nicht Nicklas, und abermals fehlen der Polizei alle Spuren des Sechzehnjährigen.
An die hundert Personen werden im Zusammenhang mit dem Verschwinden vernommen, das in den Medien große Aufmerksamkeit erregt. An Nicklas’ Schule, dem Norra Real in Stockholm, bildet sich eine Gruppe namens »Findet Nicklas«, und einige Jahre lang werden Plakate verteilt und auf andere Weise die Aufmerksamkeit auf Nicklas’ Verschwinden gelenkt. Wieder einige Jahre darauf wird der Fall im Fernsehen noch einmal aufbereitet, und an die zwanzig neue Hinweise laufen ein, von denen einige hochinteressant wirken. Aber am Ende kommt auch dabei nichts heraus.
Dann Schweigen. Und abermals Schweigen.
Nicklas ist und bleibt verschwunden.
Ich friere dermaßen, dass ich aufstehen und mir aus Ainas Zimmer eine Decke holen muss. Ich kann nicht entscheiden, ob das am Schock liegt oder daran, dass es im Zimmer wirklich kalt ist.
Das Norra Real: die Schule, die auch
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