Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
Hals zusammenschnürt.
Vijay scheint nicht zu bemerken, wie elend mir zumute ist.
»Na gut. Das willst du nicht.« Er seufzt, als wäre ich eine seiner weniger begabten Studentinnen. »Aber es geht ja wohl nicht darum, was du willst, oder? Stefan ist seit langem tot und begraben, und mit größter Wahrscheinlichkeit ist das auch sein Geheimnis – falls es also überhaupt erst ein Geheimnis gegeben hat. Und wenn alle Leute, mit denen du gesprochen hast, dir nichts erzählt haben, dann entweder, weil sie nicht wollen. Oder …«
»Oder was?«
»Oder, weil es nichts zu erzählen gibt. Egal aus welchem Grund, ich kann mir kaum vorstellen, wie du daran etwas ändern könntest.«
»Aber ein Mädchen ist doch ermordet worden. Ertränkt wie ein Katzenbaby, das keiner will. Da muss doch jemand …«
Vijay bleibt stehen und dreht sich zu mir um, fasst meine beiden Hände, fast wie zum Tanzen. Sein Atem wird zu kleinen weißen Wolken. Ich würde lachen, wenn ich nicht so empört wäre.
»Meine allerliebste Siri. Hör mir jetzt genau zu. Der Mord an Anna Kantsow wird untersucht. Es gibt einen Staatsanwalt, der die Ermittlungen leitet, und etliche Polizisten, die daran arbeiten. Du hast erzählt, was du weißt. Jetzt musst du alles andere der Polizei überlassen und dich darauf verlassen, dass sie ihre Arbeit tun. Du hast ihnen doch von Stefan und Anders erzählt. Wenn es einen Zusammenhang gibt, werden sie den finden.«
Ich sehe ihn an, plötzlich unsicher, ob ich meine Hände wegziehen soll – um zu betonen, dass ich nicht seiner Meinung bin, dass ich nicht zurechtgewiesen werden will wie ein Kind – oder ob ich ihm recht geben soll.
Um uns herum wird es jetzt dunkel, in Richtung City schimmern ferne Lichter. Ich fasse neuen Mut und stelle die Frage, die ich nicht auszusprechen gewagt habe, nicht einmal mir selbst gegenüber.
»Glaubst du, man kann mit jemandem zusammenleben, ohne diesen Menschen richtig zu kennen?«, flüstere ich und höre plötzlich, dass meine Stimme seltsam heiser klingt.
Vijay drückt meine Hände ein wenig.
»Warum fragst du?«
Ich schaue das Eis an. Das Wasser frisst sich durch meine Stiefel. Große dunkle Flecken zeichnen sich am Schaft ab. Ich schüttele den Kopf.
»Ich kann das einfach nicht begreifen. Wenn Stefans alte Schulfreunde ihn beschreiben, dann ist das nicht der Stefan, den ich gekannt habe. Mein Stefan war …« Ich zögere, suche nach Worten, »einfühlsam, bodenständig, ohne Interesse an Status und Geld. Aber als ich mit Ulrik gesprochen habe, hat er sie alle als unerträgliche Besserwisser beschrieben, die nur Feiern im Kopf hatten. Ich begreife das nicht.«
»Aber Siri, das war doch auf dem Gymnasium. Hast du da nie gefeiert?«
»Doch. Aber trotzdem …« Ich verstumme, lasse Vijays Hände los und schaue zum dunkler werdenden Himmel hoch. »Wir sollten vielleicht zurückgehen?«
Wir machen kehrt und wandern langsam zurück zum Psychologischen Institut und zur Krebsklinik. Ich merke plötzlich, wie kalt mir ist, ich sehne mich nach Vijays engem Arbeitszimmer, nach dem Geruch der verfaulenden Bananenschalen, von denen ich weiß, dass sie sich unter halbgelesenen Seminararbeiten verstecken, und dem Grummeln der Kaffeemaschine draußen auf dem Gang.
»Er war vielleicht nicht mehr derselbe?«
»Wie meinst du das?«
»Vielleicht war auch er auf dem Gymnasium ein unerträglicher Drecksbengel, aber Herrgott, wer ist das denn nicht? Deshalb kann er doch reifer werden und einfühlsam und bodenständig und … was noch werden?«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sage ich. »Glaubst du, man kann mit einem Menschen zusammenleben, ohne ihn wirklich zu kennen?«
Vijay weicht meinem Blick aus. Schaut über das Eis, das die Dämmerung in Blautönen anmalt.
»Ja«, sagt er. »Ja, das glaube ich.«
Es ist eine besondere Art Schande, das Vergangene nicht loslassen zu können, denke ich, als ich in der Dunkelheit über die Skurubrücke und weiter zum Värmdöland fahre. Es ist kälter geworden, und ich fahre langsam, um auf dem Glatteis, das stellenweise die Fahrbahn bedeckt, nicht ins Schleudern zu geraten. Die Straßenlaternen verteilen ihr kaltes blauweißes Licht über den schmutzigen Schnee am Straßenrand und verstärken das gespenstische, verlassene Gefühl, das über der öden Landschaft lastet.
Von jemandem, der ein Trauma durchlebt, vielleicht einen Angehörigen oder Partner verloren hat, wird erwartet, dass er während eines für angemessen erachteten
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