Bevor ich sterbe
spreize meine Finger auf dem Laken vor mir. Sie sind spindeldürr und weiß, wie Vampirhände, die aus jedem die Körperwärme aussaugen könnten.
»Ich wollte immer ein Samtkleid, als ich klein war«, sagt Mum. »Ein grünes mit Spitzenkragen. Meine Schwester hatte eins, aber ich nicht, deshalb verstehe ich, wie es ist, wenn man sich schöne Dinge wünscht. Wenn du je wieder shoppen gehen willst, Tessa, komme ich mit.« Mit einer ausladenden Geste fuchtelt sie durchs Zimmer. »Wir gehen alle!«
Cal macht sich von ihrer Schulter los, um sie anzusehen. »Echt? Ich auch?«
»Du auch.«
»Wer das wohl bezahlen wird?«, fragt Dad mit trockener Stimme von seinem Sitzplatz auf dem Fensterbrett.
Lächelnd wischt Mum Cal mit dem Handrücken die Tränen und küsst ihn auf die Wange. »Salzig«, sagt sie. »Salzig wie die See.«
Dad sieht ihr dabei zu. Ich frage mich, ob sie weiß, dass er zusieht.
Sie legt los mit einer Geschichte über ihre verwöhnte Schwester Sarah und ein Pony namens Tango. Lachend sagt Dad zu ihr, sie könne sich wohl kaum über eine schlimme Kindheit beklagen. Da zieht sie ihn auf und erzählt uns, wie sie ihrer begüterten Familie den Rücken gekehrt hat, nur um mit Dad in den Slums zu hausen. Und Cal übt einen Trick mit einer Münze, lässt ein Pfundstück von einer in die andere Hand wandern, macht dann die Faust auf und zeigt uns, dass es verschwunden ist.
Ich höre so gern zu, wie sie reden, wie ihre Worte ineinandergleiten. Meine Knochen tun nicht mehr so weh, wenn die drei so nahe sind. Wenn ich ganz still liegen bleibe, dann übersehen sie vielleicht den blassen Mond vor dem Fenster oder überhören das Medikamentenwägelchen, das gerade den Flur entlangrasselt.
Wir hätten unseren Spaß und würden uns Witze und Geschichten erzählen, bis die Sonne aufgeht.
Aber irgendwann sagt Mum: »Cal ist müde. Ich bring ihn jetzt nach Hause und ins Bett.« Und, zu Dad: »Bis dann.«
Sie gibt mir einen Abschiedskuss und wirft mir noch von der Tür eine Kusshand zu. Ich spüre richtig, wie die auf meiner Wange landet.
»Auf Wiederriechen«, sagt Cal.
Und dann sind sie weg.
»Übernachtet sie bei uns?«, frage ich Dad.
»Nur heute Abend, das scheint die beste Lösung.«
Er kommt rüber, setzt sich auf den Stuhl und nimmt meine Hand in seine. »Weißt du«, sagt er, »als du frisch auf der Welt warst, haben Mum und ich nachts wach gelegen und dir beim Atmen zugesehen. Wir waren überzeugt, dass du vergessen würdest, wie’s geht, wenn wir nicht mehr hinsehen.« In seiner Hand ändert sich etwas, seine Finger werden weicher an den Rändern. »Lach mich ruhig aus, aber es stimmt. Wenn die Kinder größer werden, lässt es etwas nach, aber es hört nie ganz auf. Ich mach mir immerzu Sorgen um dich.«
»Warum erzählst du mir das?«
Er seufzt. »Ich weiß, dass du was vorhast. Cal hat mir was von einer Liste erzählt, die du aufgeschrieben hast. Ich muss davon wissen, nicht weil ich es dir verbieten will, sondern weil ich dich beschützen will.«
»Ist das nicht ein und dasselbe?«
»Nein, das finde ich nicht. Es ist, als würdest du das Beste von dir verschleudern, Tess. Es tut so weh, ausgeschlossen zu sein.«
Seine Stimme verläppert sich. Mehr will er wirklich nicht? Als beteiligt sein? Aber wie kann ich ihm von Jake und seinem schmalen Einzelbett erzählen? Wie kann ich ihm erzählen, dass Zoey mir gesagt hat, ich sollte reinhüpfen, und dass ich Ja sagen
musste? Als Nächstes kommen Drogen. Und nach Drogen sind immer noch sieben Punkte abzuhaken. Wenn ich ihm davon erzähle, wird er es mir wegnehmen. Ich will nicht den Rest meines Lebens in eine Decke gehüllt auf dem Sofa verbringen, den Kopf an Dads Schulter. Die Liste ist das Einzige, was mich am Laufen hält.
DREIZEHN
I ch dachte, es wäre Vormittag, aber von wegen. Ich dachte, das Haus wäre so still, weil alle aufgestanden und rausgegangen wären. Dabei ist es erst sechs Uhr, und ich stecke im diesigen Frühlicht.
Ich hole mir eine Tüte Knabbergebäck aus dem Küchenschrank und drehe das Radio auf. Aufgrund eines Auffahrunfalls auf der M3 saßen mehrere Personen über Nacht in ihren Autos fest. Sie hatten keinen Zugang zu öffentlichen Toiletten, und die Rettungsdienste mussten sie mit Nahrung und Wasser versorgen. Massenstau. Die Welt ist übervölkert. Ein konservativer Abgeordneter betrügt seine Frau. Eine Leiche wurde in einem Hotel gefunden. Als hörte man sich einen Zeichentrickfilm an. Ich stelle das aus und hole mir
Weitere Kostenlose Bücher