Bevor ich sterbe
aufhört, ist sowieso alles zu spät. Mum setzt sich auf die Sofakante. Ich lege mich auf den Rücken, sehe zu, wie die Umrisse heller werden und sich auflösen, und stelle mir vor, ich wäre auf einem sinkenden Schiff. Ein Schatten schlägt mit den Flügeln in meine Richtung.
Mum fragt: »Ist es so besser?«
»Viel besser.«
Wahrscheinlich glaubt sie mir nicht, denn sie geht raus in die Küche und kommt mit dem Eiswürfelbehälter wieder. Neben dem Sofa hockt sie sich hin und kippt ihn sich auf den Schoß aus. Eiswürfel flutschen von ihrer Jeans auf den Teppich.
Sie hebt einen auf, wischt die Flusen ab und reicht ihn mir.
»Halt den hier an deine Nase.«
»Gefrorene Erbsen wären besser, Mum.«
Nach kurzem Nachdenken eilt sie wieder davon und kommt mit einem Paket Mais wieder.
»Geht das hier auch? Erbsen waren keine da.«
Das bringt mich zum Lachen – immerhin etwas.
»Was?«, will sie wissen. »Was ist so komisch?«
Ihre Wimperntusche ist verschmiert, die Haare stehen ab. Ich greife nach ihrem Arm, und sie hilft mir, mich aufzusetzen. Uralt komme ich mir vor. Ich schwenke meine Beine auf den Boden und kneife mit zwei Fingern oben in den Nasenrücken, wie sie es mir im Krankenhaus beigebracht haben. Mein Puls wummert gegen meine Schädeldecke.
»Es hört nicht auf, oder? Jetzt ruf ich Dad an.«
»Dann denkt er, dass du nicht klarkommst.«
»Soll er doch.«
Rasch wählt sie seine Nummer, verwählt sich dabei und versucht es noch mal.
»Los, geh schon ran«, flüstert sie.
Das Zimmer ist sehr farblos. Alle Kinkerlitzchen auf dem Kaminsims ausgebleicht wie Knochen.
»Er geht nicht ran. Warum nicht? Wie laut kann es da schon sein, beim Bowling?«
»Das ist sein erster Ausgehabend seit Wochen, Mum. Lass ihn. Wir schaffen es schon.«
Ihre Gesichtszüge entgleisen.
Sie hat mich noch zu keiner einzigen Transfusion oder Lumbalpunktion begleitet. Bei der Knochenmarkstransplantation durfte sie nicht in meiner Nähe sein, doch sie hätte bei jeder beliebigen Diagnose dabei sein können, war es aber nicht. Selbst ihre Versprechen, mich häufiger zu besuchen, haben sich seit
Weihnachten verflüchtigt. Höchste Zeit, dass sie was von der Realität mitbekommt.
»Du musst mich ins Krankenhaus bringen, Mum.«
Sie schaut entsetzt drein. »Dad hat das Auto.«
»Ruf ein Taxi.«
»Was ist mit Cal?«
»Der schläft doch, oder etwa nicht?«
Sie nickt verzweifelt, überfordert von der Logistik.
»Schreib ihm einen Zettel.«
»Wir können ihn nicht allein lassen!«
»Er ist elf, Mum, praktisch erwachsen.«
Nach kurzem Zögern blättert sie in ihrem Adressbuch, um ein Taxi zu rufen. Ich beobachte ihr Gesicht, kann es aber nicht richtig scharf stellen. Bei mir kommt nur ein vager Eindruck von Furcht und Verwirrung an. Ich mache die Augen zu und denke an eine Mutter, die ich einmal in einem Film gesehen habe. Die hat mit einem Gewehr und einem Haufen Kindern auf einem Berg gewohnt und war stark und selbstsicher. Diese Mutter klebe ich über meine, wie Pflaster auf eine Wunde.
Als ich die Augen wieder aufmache, hat sie die Arme voller Handtücher und zerrt an meiner Jacke. »Du solltest bestimmt nicht einschlafen«, sagt sie. »Komm, auf die Beine mit dir. Es hat geklingelt.«
Ich bin benommen, und mir ist heiß, so als wäre alles womöglich nur ein Traum. Sie zieht mich hoch, und zusammen tappen wir in den Flur raus. Von den Wänden höre ich es flüstern.
Aber es ist gar nicht das Taxi, sondern Adam, voll gestylt für unsere Verabredung. Ich versuche mich zu verstecken, ins Wohnzimmer zurückzustolpern, aber er sieht mich.
»Tess«, sagt er. »Du lieber Himmel! Was ist passiert?«
»Nasenbluten«, informiert ihn Mum. »Wir haben gedacht, du wärst das Taxi.«
»Ihr müsst ins Krankenhaus? Ich bring euch hin, im Auto von meinem Dad.«
Er betritt den Flur und legt den Arm um mich, ganz so, als ob wir alle einfach mal eben zu seinem Auto schlendern und einsteigen würden. Als ob er fahren und ich die ganzen Sitzpolster vollbluten würde und das alles nichts ausmachen würde. Ich sehe aus wie ein überfahrenes Tier. Begreift er denn nicht, dass er mich nun wirklich nicht so sehen sollte?
Ich stoße ihn weg. »Geh nach Hause, Adam.«
»Ich bring dich ins Krankenhaus«, sagt er wieder, als ob ich ihn vielleicht das erste Mal nicht richtig gehört oder das viele Blut mich begriffsstutzig gemacht hätte.
Mum nimmt ihn am Arm und führt ihn sanft wieder zur Tür hinaus. »Wir kommen zurecht«, sagt sie.
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