Bevor ich sterbe
unterhielte er sich gut. In ihrer Erzählung strahlt der Himmel, und Tag für Tag sehen wir Delphine, die sich in den Wellen tummeln.
»Zusätzlichen Sauerstoff«, sagt der Arzt und blinzelt mir zu, als biete er mir Drogen an. »Veröden nicht nötig. Gut so.« Nachdem er sich kurz mit der Krankenschwester besprochen
hat, dreht er sich in der Tür zu einem Abschiedswinken um. »Bisher die beste Kundin heute Abend«, sagt er mir und verneigt sich kurz vor Mum. »Und Sie waren auch gar nicht so übel.«
»Das war vielleicht eine Nacht!«, sagt Mum, als wir endlich in ein Taxi steigen, das uns nach Hause bringt.
»Mir hat’s gefallen, dass du bei mir warst.«
Sie guckt überrascht, sogar freudig überrascht. »Ich weiß ja nicht, ob ich mich besonders nützlich machen konnte.«
Frühlicht ergießt sich vom Himmel auf die Straße. Im Taxi ist es kalt, dünne Luft, wie in einer Kirche.
»Hier«, sagt Mum, als sie ihren Mantel aufknöpft und mir um die Schultern legt.
»Drücken Sie auf die Tube«, verlangt sie vom Fahrer, und wir kichern beide.
Wir fahren so zurück, wie wir gekommen sind. Sie ist sehr gesprächig, sprudelt nur so über vor Plänen für den Frühling und Ostern. Sie möchte mehr Zeit in unserem Haus verbringen, sagt sie. Ein paar von ihren und Dads alten Freunden zum Essen einladen. Vielleicht wird sie zu meinem Geburtstag im Mai eine Party geben.
Vielleicht ist es ihr diesmal ernst damit.
»Weißt du«, sagt sie, »jeden Abend, wenn die Marktstände abgebaut werden, geh ich raus und sammle Obst und Gemüse vom Boden auf. Manchmal schmeißen sie ganze Kisten mit Mangos weg. Vorige Woche hab ich fünf Wolfsbarsche aufgehoben, die da einfach in einer Plastiktüte rumlagen. Wenn ich damit anfange, Sachen in Dads Gefriertruhe zu lagern, haben wir reichlich für Partys und Essenseinladungen, und deinen Dad kostet es keinen Penny.«
Und schon versteigt sie sich in Partyspiele und Cocktails, redet von Bands und Entertainern; sie mietet den Gemeindesaal
und dekoriert ihn mit Luftschlangen und Ballons. Ich schmiege mich an sie und lehne den Kopf an ihre Schulter. Schließlich bin ich ihre Tochter. Ich versuche ganz stillzuhalten, weil ich nicht will, dass es aufhört. Es ist so schön, von ihren Worten und ihrem warmen Mantel eingelullt zu werden.
»Guck mal«, sagt sie. »Ist ja komisch.«
Mühsam öffne ich die Augen. »Was denn?«
»Da an der Brücke. Vorhin war da noch nichts.«
Wir halten an der Ampel vor dem Bahnhof. Schon zu dieser frühen Stunde ist hier mächtig was los: Taxis setzen Pendler ab, die wild entschlossen sind, der Rushhour ein Schnippchen zu schlagen. Auf der Brücke hoch über der Straße sind in dieser Nacht Buchstaben erblüht. Mehrere Leute gucken. Da stehen ein kippliges T, ein ausgefranstes E und vier miteinander verkettete Bögen für das Doppel-S. Am Ende werden die vier anderen Buchstaben von einem gigantischen A überragt.
Mum sagt: »So ein Zufall.«
Von wegen.
Mein Handy steckt in meiner Tasche. Meine Finger greifen danach und lassen es wieder los.
Das muss er letzte Nacht gemacht haben. Im Dunkeln. Er ist die Mauer hochgeklettert, hat sich rittlings draufgesetzt und runtergelehnt.
Mir tut das Herz weh. Ich hole meine Handy raus und simse: LEBSTE NOCH?
Die Ampel springt von Gelb auf Grün. Das Taxi fährt unter der Brücke durch und die High Street lang.
Es ist halb sieben. Ob er überhaupt wach ist? Und wenn er das Gleichgewicht verloren hat und auf die Straße runtergesegelt ist?
»Ach, du lieber lieber Himmel«, sagt Mum. »Du bist überall!«
Die Läden an der High Street haben noch ihre Metallgitter
runtergelassen, schlafen mit leeren Augen. Da ist überall mein Name draufgekrakelt. Ich stehe vor dem Zeitungskiosk von Ajay. Auf den teuren Fensterläden des Reformhauses. Riesengroß vor Handies Möbelgeschäft, King’s Hähnchenimbiss und dem Grill-Café. Ich winde mich über den Bürgersteig vor der Bank bis zum Babyladen. Ich habe mir die Straße angeeignet und bin eine leuchtende Girlande einmal um den Kreisverkehr rum.
»Das ist ein Wunder!«, flüstert Mum.
»Das ist Adam.«
»Von nebenan?« Sie hört sich so erstaunt an, als wäre Zauberei im Spiel.
Mein Handy piept. LEBE NOCH. DU?
Ich lache laut. Wenn ich wiederkomme, werde ich an seine Tür klopfen und ihm sagen, dass es mir leid tut. Er wird mich so anlächeln wie gestern, als er Gartenabfälle den Weg langtrug, mich dabei ertappte, wie ich ihm zusah, und sagte: »Du kannst dich wohl
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