Bevor ich verbrenne
abgesehen davon, dass ich der Letzte in der Abfolge war. Hin und wieder erinnerte ich mich an Ruths Worte: Du bist ja ein Dichter . Die Worte fanden sich noch in mir, obwohl ich ganz damit aufgehört hatte, Geschichten zu erzählen. Ich wagte es nicht, denn es wäre ja denkbar, dass mich so etwas auf die Schattenseite des Lebens führen könnte.
Diese Sache mit der Sonnen- und der Schattenseite des Lebens wurde allmählich immer anstrengender. Daher begann ich mich zu verstellen. Viele Jahre funktionierte es ausgezeichnet. In gewisser Weise war es leicht. Ich redete wie die anderen, tat, was die anderen taten. Aber ich war nicht wie die anderen. Ich las Bücher. Ich wurde geradezu abhängig. Als ich zwölf war, erlaubte mir Karin, Bücher aus der Erwachsenenabteilung der Bibliothek zu leihen. Es war ein Gefühl, als würde ich eine unsichtbare Grenze überschreiten. Von den Die Geschichte von -Büchern ging ich direkt über zu Büchern von Mikkjel Fønhus, die alle von Tieren oder einsamen Männern handelten, die zugrunde gehen. Mich, der so brav war und sich immer auf der Sonnenseite hielt, sprachen sie an. Dann las ich die Bücher, die ich zu Hause fand. Meine Eltern waren in den frühen siebziger Jahren Mitglied eines Buchclubs gewesen, alle ihre Bücher sahen nahezu gleich aus, nur mit unterschiedlichen Farben und Mustern auf dem Rücken. Ich fing an, all die Bücher zu lesen, die meine Eltern vielleicht irgendwann einmal gelesen hatten, ich wusste es nicht. Die Ausnahme war Trygve Gulbranssens Björndal-Trilogie, denn die Bücher sollte ich lesen, hatte mein Vater gesagt. Die Vorstellung, dass Vater genau diese Bücher gelesen hatte, ließ mich sie verschlingen, und es gibt keine anderen Bücher, weder vorher noch nachher, die mich so gepackt haben. Ich war vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt, ich wünschte mir, dass diese Bücher nie ein Ende fanden, und ich weinte allein vor mich hin, als Dag der Alte am Ende des zweiten Bandes starb.
Ein Buch hatte mich zum Weinen gebracht.
Es war unerhört. Ich schämte mich noch lange danach. Ich konnte es keiner lebenden Seele erzählen, aber ich zerbrach mir schon den Kopf darüber, ob es Vater auch so ergangen war und ob er deshalb gewollt hatte, dass ich dieses Buch las.
Ich wollte auf der Sonnenseite sein, um alles in der Welt wollte ich auf der Sonnenseite sein.
Als ich älter wurde, bemerkten auch die anderen, dass ich nicht so war wie sie. Schließlich sahen sie es. Es war etwas Eigenartiges, etwas nicht Greifbares, etwas Fremdes. Sie wussten nicht, woher es kam, aber sie sahen es. Sie kannten mich doch. Ich war es doch. Und trotzdem war ich ein anderer. Ich war nicht wie sie, und sie fingen an, sich zurückzuziehen. Sie fingen an, mich zu meiden, in den Pausen blieb ich allein. Sie überließen mich mir selbst. Sie quälten mich nicht, sie sagten nichts, aber sie überließen mich mir selbst. Sie waren mit anderen Dingen beschäftigt, sie faszinierten schnelle Autos, die Jagd oder Mädchen. Sie begannen zu rauchen, und sie begannen zu trinken, trotz allem, was man uns einige Jahre zuvor im Bethaus eingeschärft hatte. Ich ging auf die Feste, ich auch, schließlich war ich nicht unerwünscht, aber ich blieb sitzen, ohne zu rauchen oder zu trinken. Denn ich war brav und anständig und tat nie etwas Falsches. Ich spürte selbst, dass mich eine Aura von Reinheit umgab. Es wurde über die Jagd geredet, über Autos und Feten, aber noch mehr übers Saufen, über Bier, Schnaps und Hausgebrannten. Ich saß dabei und war sauber, und letztlich gehörte ich doch nicht dazu. Ich war woanders. Ich war längst ein anderer. All diese Jahre bin ich in Wahrheit auf dem Weg fort gewesen. Mein ganzes Leben lang bin ich ein anderer gewesen.
Ich erinnere mich an den allerletzten Silvesterabend bei irgendjemandem aus dem Ort. Ein Klassenkamerad war auf dem Klo eingeschlafen, nachdem er den Schlüssel herumgedreht hatte. Ich war der einzig Nüchterne, und in meinem Verantwortungsbewusstsein meinte ich, ihn dort herausholen zu müssen. Die Musik dröhnte aus dem Wohnzimmer, während ich der Toilettentür mit einem Schraubenzieher zusetzte. Irgendwie bekam ich das Schloss auf, und als ich hereinkam, lag er mit bis zu den Knien heruntergezogener Hose auf dem Boden. Er hatte sich vollgekotzt, Erbrochenes floss aus dem Mund. Sofort schloss ich die Tür, damit niemand ihn so sah, weckte ihn, zerrte ihm sämtliche Klamotten vom Leib und setzte ihn in die Badewanne. Dann wusch ich
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