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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaute Heivoll
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Flugzeug mit dem Zielfernrohr zu erfassen. Er musste lange am Nachthimmel suchen. Dann hatte er es. Er verfolgte das Flugzeug, das näher kam, immer näher. Ein großes erleuchtetes Schiff. Er konnte beinahe durch die kleinen Fenster sehen, wie sie alle dort saßen. Als die Maschine vielleicht sechzig, siebzig Meter über dem Fjord hing, drückte er ab. Ein kaltes Klicken war zu hören. Dann nahm er das Gewehr herunter. Er hatte einen trockenen Mund. Er wusste, dass er getroffen hätte.

VI
    Am Freitagmorgen, dem 2 . Juni, begann es zu regnen. Es war ein leichter, schwebender Regen, der in den Morgenstunden in der Luft hing und das Gras am Straßenrand glitzern ließ. Dann klarte es auf. Der Wind frischte aus Nordwest auf und wischte alles fort. Keine Wolke zeigte sich mehr am Himmel, die Sonne strahlte frisch gewaschen, die Straße trocknete. Es war kurz nach neun.
    Dag war an diesem Morgen ein wenig später als gewöhnlich nach Hause gekommen. Er war todmüde, hatte kein Wort gesagt, ging direkt auf den Dachboden in sein Bett. Er hatte nicht einmal gegessen. Keine Tasse Kaffee, kein Glas Milch. Nichts.
    Ingemann war wie gewöhnlich kurz nach acht in die Werkstatt gegangen, Alma saß allein in der Küche. Sie hatte das Radio eingeschaltet und so leise gestellt, wie es nur ging. Es war die Neun-Uhr-Sendung mit Jan Pande-Rolfsen. Sie wischte über den Tisch, dann ließ sie Wasser in die Schüssel laufen und wusch ab.
    Als die Sendung vorbei war, ging sie in den Flur, blieb einen Moment am Treppengeländer stehen und horchte. Nichts. Sie kochte frischen Kaffee, goss ein bisschen in eine Thermoskanne und ging damit zu Ingemann in die Werkstatt. Dort roch es nach Öl, Diesel und altem Schrott. Ein beruhigender und angenehmer Geruch, den sie mochte, obwohl sie sich nie länger als unbedingt notwendig in der Werkstatt aufhielt. Sie wusste nicht so genau, was Ingemann eigentlich tat, und er erklärte ihr auch nie etwas. Dies war seine Welt, sie hatte ihre eigene, und so sollte es auch sein. Sie hatten beide ihre eigene Welt, und außerdem hatten sie ja Dag.
    Als Ingemann hörte, dass sie kam, stand er sofort von dem Stahlrohrstuhl an der Werkbank auf, auf dem er immer saß, wenn er wenig zu tun hatte oder eine Pause machte. Er trat an das Regal mit den Schrauben und Muttern und kehrte ihr den Rücken zu, als sie die Werkstatt betrat.
    »Ich stelle dir Kaffee hin«, sagte sie.
    »Ja, mach das«, murmelte er.
    Sie blieb einen Moment stehen, bis er sich umdrehte.
    »Er schläft noch«, sagte sie. Es klang eher wie eine Frage als eine Feststellung.
    Ingemann erwiderte nichts. Jedes Mal baute sich eine Glaswand zwischen ihnen auf, wenn sie über Dag sprachen. Er beugte sich über einen zerlegten Motor, dann fand er das kleine Loch, in das die Schraube passte, und zog sie hart an. Sie blieb noch einen Moment stehen und sah ihm zu.
    »Ich glaube, Dag ist krank«, sagte sie plötzlich.
    »Krank?«
    »Er führt Selbstgespräche.«
    Ingemann richtete sich auf und sah sie an.
    »Woher weißt du das?«
    »Ich habe es gehört.«
    »Das kann nicht sein«, sagte Ingemann und beugte sich wieder über den Motor.
    »Es stimmt. Er redet mit sich selbst.«
    »Dag ist nicht krank«, erwiderte er ruhig, das Gesicht dem schwarzen Motor zugewandt.
    »Ich habe versucht, mit ihm zu reden«, fuhr sie fort. »Er war kurz davor, mir zu erzählen, was nicht in Ordnung ist.«
    »Ich glaube nicht, dass mit ihm irgendwas nicht in Ordnung ist«, entgegnete Ingemann, nahm eine weitere Schraube und zog sie ebenfalls fest an. »Dag fehlt nichts.«
    »Woher willst du das wissen?« Sie zog die Strickjacke enger um sich und verschränkte die Arme.
    »Weil er mein Sohn ist. Ich kenne ihn.«
    Gewöhnlich trank sie in der stillen Stunde, bevor sie das Mittagessen zubereitete, im Wohnzimmer allein eine Tasse Kaffee. Auch an diesem Tag, und doch trank sie den Kaffee hastiger als gewöhnlich, obwohl er noch brühend heiß war. Sie starrte auf das schwarze Klavier und das Regal mit den Pokalen. Dann stellte sie die Tasse ab, holte einen Lappen aus der Küche und begann, Staub zu wischen. Sie wischte über das Klavier und polierte vorsichtig die Tasten, es klimperte leise. Dann ging sie wieder in den Flur, stellte sich auf die unterste Treppenstufe und horchte. Sie fand keine Ruhe, und es war doch erst kurz nach zehn. Plötzlich fasste sie einen Entschluss. Sie brachte den Putzlappen in die Küche, wischte sich die Hände ab und richtete ihr Haar vor dem Spiegel im Flur,

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