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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaute Heivoll
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seinen Augen, wie damals, als er sich von hinten angeschlichen und ihr die Hände auf die Augen gelegt hatte.
    »Willst du dich nicht hinlegen? Du brauchst Schlaf.«
    »Mich hinlegen?«
    »Es ist doch fast Mitternacht«, sagte Ingemann und erhob sich mühsam aus dem Sessel. »Hoffen wir, dass es eine ruhige Nacht wird.«
    »Ich will sehen, ob es irgendetwas Verdächtiges gibt«, erklärte Dag und ging in die Küche. Sie hörte, wie er die Kühlschranktür öffnete.
    »Das muss doch nicht jetzt sein«, sagte sie und folgte ihm. Er lehnte an der Kühlschranktür und starrte in das schwache Licht.
    »Jemand muss Wache halten«, erwiderte er, schloss die Tür und drehte sich zu ihr um. Er schälte eine Banane und aß sie hastig. »Wenn niemand Wache hält, brennt es wieder. Wer weiß schon, was diesem Verrückten einfällt.«
    »Aber doch nicht heute Nacht schon wieder«, meinte sie. »Du hast doc h … du musst doch schlafen, du auch.«
    Er sah sie lange an, und genau in diesem Augenblick hatte sie den Eindruck, als würde sich eine kleine Veränderung auf seinem Gesicht abzeichnen. Sie erkannte es sofort wieder. Es zeigte sich nur einen kurzen, eisigen Moment. Plötzlich war alles verhärtet. Dann schmolz es. Er kam auf sie zu und stand so nah vor ihr, dass sie seinen Geruch wahrnahm. Er roch nach Abgasen, Diesel und ein wenig nach Banane. Er war fast einen Kopf größer als sie und sie spürte seinen Atem an ihrem Haar.
    »Mama«, sagte er so leise, dass nur sie es hören konnte. Plötzlich fühlte sie sich unwohl, als würde sie nicht genug Luft bekommen.
    »Aber Dag«, flüsterte sie. »Lieber Dag, du musst doch schlafen.«
    Er legte ihr die Hand auf die Schulter, sie war so schwer, dass er sie hätte zu Boden pressen können, und gleichzeitig so leicht, als könnte er sie zum Schweben bringen. Seine Hand erfüllte sie mit Wärme, einer Wärme, die sie nie empfunden hatte, einer Wärme, die nur von Dag kommen konnte und die auf der ganzen Welt nur sie empfangen konnte. Und auf der ganzen Welt hörte auch nur sie seine Stimme, die nah an ihrem Ohr flüsterte: »Mama, Mama, kleine, liebe Mama.«

XIII
    Am Abend nach dem Examen ging ich mit den anderen zur abschließenden Examensfeier in den Keller unter den alten Universitätsgebäuden. Zunächst hatten wir in einer engen Studentenbude bei Tullinløkka begonnen, und nach einigen Stunden und einigen Gläsern Bier brachen wir zusammen in Richtung Zentrum auf. Ich saß zwischen den Kommilitonen und brachte ein Skål nach dem anderen aus, leerte mein Glas, füllte es und prostete erneut. Ich merkte, dass die anderen mich ansahen, ihre Augen erschienen mir ein wenig abwartend, aber freundlich. Sie hatten mich ja nie so gesehen. Alle waren fröhlich, munter, aber auch erschöpft nach dem wochenlangen Lernen. Über das Examen oder die Aufgaben, die man uns gegeben hatte, wurde nicht geredet. Die meisten waren einfach erleichtert, dass sie es überstanden hatten, und freuten sich auf den Sommer und die langen Ferien. Danach kam das Herbstsemester mit neuen Herausforderunge n – ein weiterer Schritt auf der Leiter, die zum endgültigen Ziel führte. Ich lächelte und prostete und sang mit bei der Musik, die durch das Kellergewölbe dröhnte, doch in Wahrheit trieb ich leise auf die andere Seite. Die ganze Zeit war ich merkwürdig klar und konzentriert, trotz des zunehmenden Rauschs. Eigentlich charakterisierte diese Klarheit den Zustand, in dem ich mich befand, seit ich von Vaters Krankheit wusste. Ich war klar und fern und stand neben mir selbst, und ich entsinne mich, dass ich zwischen zwei Liedern mit einem halben Liter in der Hand aufstand und schrie: Ich habe beim Examen nichts geschrieben! Ich habe eine leere Seite abgegeben! Da habt ihr mich! Prost dafür! Für einige Sekunden, in denen sie sich gegenseitig ansahen, herrschte Ruhe, einige Sekunden Ratlosigkeit, nicht mehr, dann brach das Gelächter aus. Alle lachten, dann hoben sie die Gläser und prosteten, und ich lachte und prostete mit ihnen. Das Fest wurde immer wilder, mit immer unklareren Bildern, schnellerer Musik, erhitzten Körpern, Lächeln, gewaltigen Lachsalven, langen Umarmungen, Lippen an Ohren, und alles, während ich leise davonglitt. Irgendwann verließen wir den Universitätskeller und feierten in der Stadt weiter; in meinem Kopf verschwamm es mehr und mehr. Ich wusste nicht, wie spät es war, aber es war ein kühler Abend Anfang Juni, ich erinnere mich an lächelnde Gesichter und Gelächter in den

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