Bevor ich verbrenne
keine Ahnung, wer darin lag. Ich pisste einfach. Es fühlte sich befreiend und gut an. Danach setzte ich mich auf einen Grabstein, beide Füße in einem Blumenbeet. Ein Teil von mir bemerkte, dass es erst kürzlich bepflanzt worden war; Stiefmütterchen, die man sorgfältig in die weiche, feuchte Erde gesetzt hatte. Ich spürte, wie mir ein eisiger Schauer den Rücken herunterlief: Dies war das Grab meines Vaters. Er war tot und begraben, ohne dass ich davon wusste, man hatte lange versucht, mich zu erreichen, doch als man mich nicht finden konnte, hatte man ihn begraben. Und nun saß ich hier, überzeugt, dass mein Vater unter der weichen Erde lag. Ich wagte nicht nachzusehen, was auf dem Stein stand. Ich wusste es einfach. Er ist es, sagte etwas in mir. Er ist es. Er ist es. Schließlich beugte ich mich dennoch vor, bis ich mit dem Kopf beinahe an die Knie stieß. Ich konnte den Namen auf dem Stein lesen. Es war nur ein einziger Name, er konnte es also nicht sein. Ich übergab mich. Es lief über meine Schuhe und die Blumen und platschte auf die weiche Erde. Ich stand auf und taumelte ein paar Meter zur Seite, dann übergab ich mich noch einmal. Zusammengeknickt blieb ich über einem Grabstein stehen. Ich fühlte mich sofort ein wenig besser, doch die Gedanken verschwammen noch immer. Ich lief zwischen zwei dunkle, dicht belaubte Bäume, deren schwere Äste sich tief über dem Boden ausbreiteten. Ich trat unter die Äste und setzte mich auf eine schwere Grabplatte, deren Steinblock eine Steinflagge zierte. Ich saß auf Bjørnstjerne Bjørnsons Grab und spürte, wie ich leise auf die andere Seite trieb. Schließlich lehnte ich mich zurück. Es war gut. Unendlich gut. Als wäre ich mein ganzes Leben umhergegangen und hätte auf genau diesen Moment gewartet. Ich lag rücklings auf Bjørnsons Grab, streckte die Arme aus und spürte, wie schwer ich war. Letztlich muss ich dort eingeschlafen sein, ausgestreckt wie ein Engel, denn ich erinnere mich an nichts mehr.
XIV
Als er an der Schule von Lauvslandsmoen vorbeifuhr, schaltete er die Scheinwerfer aus. Zunächst sah er nichts, dann wurde es ein wenig besser, und schließlich ging es sehr gut. Er musste sich nur daran gewöhnen. Er schaltete das Licht wieder ein. Am Schulhof bog er rechts auf die Straße nach Dynestøl. Ein Stück Zaun am Fußballplatz war kaputt. Die Schulgebäude lagen im Dunkeln. Jedes Mal, wenn er an der Schule vorbeifuhr, hatte er das Gefühl, als läge seine eigene Schulzeit noch nicht lange zurück. Als würde alles zurückkommen, obwohl es neun Jahre her war. In allen Fächern war er der Beste gewesen, ganz allein hatte er an der Spitze gestanden. Bisweilen kam es vor, dass er Reinerts Stimme hörte: Kannst du uns ein bisschen vorlesen, Dag? Kannst du die ersten Takte für uns spielen, Dag? Kannst du diesen Satz an die Tafel schreiben, Dag? Du schreibst so schön. Reinert hatte ihm den Glauben vermittelt, dass er werden könne, was er wollte. Reinert hatte es in ihm gesehen. Als hätte er gewusst, wer er war, wozu er taugte, dieses ganz und gar Einzigartige. Er war nicht wie die anderen, das hatte Reinert gespürt. Die anderen wurden Bauern, Elektriker, Tischler und Installateure oder gingen vielleicht zur Polizei.
Aber er? Dag? Was sollte aus Dag werden?
Manchmal hatten sie daheim in Skinnsnes um den Küchentisch gesessen und sich über seine Zukunft unterhalte n – und dann kam es ihnen vor, als befänden sie sich in einem magischen Zirkel. Es passierte ja nicht mehr so oft, aber er erinnerte sich, wie alle das Gefühl von etwas Großem und Andächtigem erfüllte. Und er wusste, dass dieses Große und Andächtige in seinen Händen lag. Er sollte in seinem Leben etwas bewirken. Er sollte etwas werden. Alles lag in seinen Händen.
Ingemann wollte, dass er Arzt wurde. Oder Anwalt. Du kannst werden, was du willst, du bist klug genug , hatte der Vater gesagt. Du kannst werden, was du willst, nur nicht Feuerwehrmann, denn das bist du ja bereits . Darüber hatten sie gelacht. Doch er wusste, dass sein Vater Recht hatte. Manchmal spürte er, dass alles möglich war, er hatte unbegrenzte Fähigkeiten, die Welt lag ihm zu Füßen, er musste nur noch losgehen.
Er fuhr auf den Schulhof. Hielt an und stieg aus. Überall war es dunkel und ganz still, abgesehen von den klopfenden Geräuschen des warmen Motors. Ruhig ging er das Schulgebäude entlang, guckte durch die dunklen Fenster und konnte die Pultreihen in dem Klassenraum erkennen, das Katheder,
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