Bevor ich verbrenne
die Tafel, eine Buchstabenserie, ein paar kindliche Zeichnungen an der Wand.
Was sollte er denn werden?
Etwas Großes musste es sein, etwas, das die anderen die Augen aufsperren ließ. Er hörte, was sie sagen würden: Ist Dag Arzt geworden? Ist Dag Anwalt geworden? Ja, wir haben’s doch immer gewusst.
Es gab keine Grenzen. Er konnte nach Oslo ziehen und bereits im Herbst mit dem Medizinstudium beginnen, er könnte es in zwei, drei Jahren schaffen. Das müsste schon gehen. Gleichzeitig könnte er Klavierunterricht nehmen. Er könnte auch mit Jura beginnen. Oder umgekehrt, er könnte sich auf die Musik konzentrieren und abends die juristische Fakultät besuchen. Auch das wäre eine Möglichkeit. Vielleicht war es am besten, auf Jura zu setzen. Da boten sich viele Möglichkeiten. Er könnte einen Job als Topjurist bekommen. Vielleicht im Justizministerium? Oder im Außenministerium? Er könnte einen Anwärterkurs des Außenministeriums belegen. Ordentlich Französisch lernen oder vielleicht Spanisch. Nach Paris oder Madrid entsandt werden. Er könnte Diplomat werden. Er sah es vor sich, wie Alma und Ingemann ihn in der Pariser Botschaft besuchten. Er fuhr in der schwarzen Botschaftslimousine vor und holte sie am Flughafen Charles de Gaulle ab; seine Mutter würde die Hände zusammenschlagen, bevor sie ihn umarmte und flüsterte: Bist du das wirklich, mein Sohn? Dann würden sie gemeinsam nach Paris fahren, und er würde ihnen alles zeigen, wovon sie bisher nur gehört hatten: den Eiffelturm, die Champs-Elysées, den Triumphbogen. Der Tagtraum endete immer dort, am Triumphbogen, er war ja nie in Paris gewesen.
Er könnte Diplomat werden. Oder warum nicht Strafverteidiger? Er hatte doch den bekannten Strafverteidiger Alf Nordhus im Fernsehen gesehen und war sofort fasziniert gewesen. Der beißende Witz, der Kinnbart und die qualmende Zigarette. Er sah sich selbst in einer schwarzen Robe bei irgendeinem Fall plädieren. Er würde gut in diese Rolle passen. Er könnte jemanden verteidigen. Auch, wenn es sich um einen Mörder handelte. Er könnte alle davon überzeugen, dass er Recht hatte und die anderen sich irrten. Dass der Mörder vernünftig gehandelt hatte und alle anderen erkannten, was der Tat zugrunde lag. Wenn man es erst einmal begriff, gab es keine Verbrechen mehr. Und ein Mörder wäre nicht länger ein Mörder. Der Mörder würde freigesprochen, und er könnte sich im Glanz der Verblüffung sonnen.
Er sah es vor sich, und er hörte seine eigene Stimme. Man musste lediglich verstehen. Der Mörder war kein Mörder, bei dem Mörder handelte es sich um einen Menschen. War das denn so schwierig?
Er setzte sich wieder ins Auto und fuhr weiter nach Dynestøl. Er fuhr auf der langen und schmalen Straße am Homevannet vorbei. Ein weißer Nebelschleier hing ein paar Meter über der Wasseroberfläche, als hätte er sich in der Dunkelheit losgerissen, und stieg nun unendlich langsam zum Himmel. Das gegenüberliegende Ufer sah er nicht, nur eine schwarze Wand aus Bäumen. Dann schaltete er die Scheinwerfer aus. Er fuhr an der Hütte des Automobilklubs von Kristiansand vorbei, die KAK-Hütte wurde sie genannt, direkt davor lag der Badeplatz mit der dreißig Meter vom Ufer entfernten Felspartie unter Wasser. In der Hütte hielten sich Leute auf, registrierte er, mehrere Autos standen nachlässig geparkt davor, aber alle waren wohl schon zu Bett gegangen. Die Uhr zeigte kurz nach eins. Er hatte das Radio aufgedreht und fuhr weiter auf der Straße nach Dynestøl. Die Straße war eng und kurvig, zwischen den Fahrstreifen wuchs Gras. Die Äste kleiner Birken schrammten hin und wieder über die Seite des Wagens, und er zuckte zusammen, als wären es schlaffe Menschenhände. Nirgendwo brannte Licht. Kein Haus, keine Lampe, nichts. Er beschloss zurückzufahren und sah sich nach einer geeigneten Stelle zum Wenden um.
In diesem Moment fiel sein Blick auf etwas, das ein Haus zu sein schien. Es lag ein Stück entfernt in der Dunkelheit auf einem kleinen Hügel direkt an der Straße. Daneben stand auch eine Scheune, er sah sie erst, als er näherkam. Vorsichtig fuhr er dicht heran. Dann hielt er und stieg aus. Die Nacht war kühl, und er trug nur ein dünnes Hemd. Er rollte die Ärmel herunter und knöpfte es bis zum Hals zu. Es half ein wenig, außerdem zog er sich eine Jacke an, die auf dem Rücksitz lag; jetzt fühlte er sich wohler. Um ihn herum herrschte Stille, nur der warme Motor tuckerte leise, sonst nichts. Er ging
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