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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaute Heivoll
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über dem Wasserhahn, eine Hummel, die unablässig gegen das Fenster flog. Teresa wollte die Wohnung verlassen, als sie ein Geräusch auf dem Dachboden hörte. Sie ging die Treppe hinauf und schaute durch die offene Tür. Alma lag auf der Bettdecke, sie hatte sich nicht ausgezogen. Die Jacke war halb aufgeknöpft. Sogar ihre Schuhe trug sie noch.
    »Alma?«, flüsterte Teresa.
    Sie wusste nicht so genau, warum sie flüsterte, vielleicht lag es am Anblick der Schuhe auf der Bettdecke, vielleicht an den blanken, stieren Augen. Alma bewegte sich nicht, aber sie hatte gerufen, das wusste Teresa genau.
    »Alma«, flüsterte sie noch einmal. Diesmal war es keine Frage, eher eine Feststellung. Alma lag steif und ausgestreckt da, wie eine umgestürzte Statue, ihr Haar floss über das Kopfkissen. Sie atmete mit offenem Mund, die Augen starrten auf die ausgeschaltete Deckenlampe, immerhin hob und senkte sich ihre Brust.
    »Er ist es«, flüsterte sie. »Er ist es.«
    Teresa blieb an der Bettkante stehen, doch Alma sah sie nicht an.
    »Alles ist vorbei«, flüsterte sie.
    Sie drehte Teresa den Kopf zu, als hätte sie auf einmal bemerkt, dass jemand hereingekommen war. Ihre Lippen bewegten sich. Teresa beugte sich hinunter. Almas Stimme klang heiser und ein wenig gepresst, als käme sie durch einen dünnen Spalt: »Ich kann mich nicht bewegen.«
    Dann sagte sie kein weiteres Wort.
    Teresa schreibt, wie sie Alma die Schuhe auszog. Erst den linken, dann den rechten. Ein bisschen Sand und Erde rieselten auf die Decke, sie wischte die Krümel auf den Boden und stellte die Schuhe ordentlich nebeneinander an die Tür. Dann knöpfte sie die Jacke auf und breitete sie zur Seite. Zog den rechten Arm aus dem Ärmel, danach den linken. Als würde sie ein schlafendes Kind ausziehen. Doch Alma schlief nicht, sie lag die ganze Zeit nur da, starrte an die Deckenlampe und war nicht zu erreichen. Teresa zog sie ganz aus und legte Ingemanns Bettdecke über sie.
    »Ruh dich ein bisschen aus«, flüstere sie. Sie hatte den Eindruck, als würde Alma langsam den Kopf schütteln, aber sie sagte nichts, sie blieb nur mit offenen Augen liegen.
    In diesem Moment hörte Teresa von unten leise Musik. Es war Klaviermusik, und sie erkannte das Stück, das gespielt wurde, sofort. Sie schaute Alma an, aber sie hatte die Augen geschlossen. Ruhig und entspannt lag sie da, mit glatter Stirn und etwas Dreck und Tannennadeln im Haa r – plötzlich sah sie sehr viel jünger aus, als sie in Wirklichkeit war. Als würde sie emporgehoben und auf dem Strom der Musik aus dem Zimmer unter ihr schweben.
    Teresa stand auf und ging die Treppe hinunter. Die Musik wurde lauter. Dann stand sie im Wohnzimmer und betrachtete die Gestalt, die am Klavier saß.
    »Du spielst gut«, sagte sie.
    Er zuckte zusammen und ließ die Tasten los, als wären sie plötzlich glühend heiß. Lange blieben die Töne in der Luft hängen, glitten ineinander, sanken herab und verschwanden.
    »Findest du?«, antwortete er.
    Sie nickte.
    »Es ist lange her, seit du es mir beigebracht hast.«
    Wieder nickte sie.
    »Möchtest du, dass ich weiterspiele?«
    Er wartete die Antwort nicht ab, sondern wandte sich wieder den Tasten zu. Schlug einige Akkorde an. Erst jetzt bemerkte sie, dass es im ganzen Wohnzimmer beißend nach Rauch und Feuer roch. Er saß dort in einem weißen Hemd mit Flecken am Rücken und an den Ärmeln, über die Schulter zog sich ein langer Riss, durch den sie die helle Haut sehen konnte, sein Haar war zerwühlt, die Hände dreckig. Sie vergaß das Zuhören, wie es häufig auch bei ihren Schülern vorkam. Sie vergaß alles, was mit Technik, Ausdruck und Präsentation zu tun hatte. Stattdessen schien sie in der Musik zu versinken, beziehungsweise die Musik versank in ihr. Sie stand einfach nur da und starrte den spielenden Dag an, sie starrte auf seine schmutzigen Finger, die nicht einen Fleck auf den weißen Tasten hinterließen.
    Sie hörte nicht, wie es an der Tür klopfte, bemerkte kaum, dass Leute in den Flur kamen, dass jemand rief. Weder sie noch Dag bemerkten etwas, bis ein Polizeibeamter im Wohnzimmer stand. Dann kam Alfred. Und schließlich Ingemann. Erst da ließ er die Tasten los, und es wurde still. Er sah einen nach dem anderen an. Niemand sagte etwas. Ingemann war grau im Gesicht, Teresa konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so gesehen zu haben. Er stützte sich am Türrahmen, und sie befürchtete einen Moment, dass er das Gleichgewicht verlieren und umfallen würde,

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