Bewahre meinen Traum
unglaublich blauen Augen.
Er zwinkerte ihr zu. „Siehst so aus, als wenn wir beide das Gleiche wollen.“
Normalerweise war es total albern, wenn ein Junge einem Mädchen zuzwinkerte. Aber nicht bei Greg Bellamy. Bei seinem Zwinkern waren ihr die Knie weich geworden.
„Tut mir leid“, sagte sie und warf ihr dichtes schwarzes Haar nach hinten. „Das gehört mir. Ich habe es zuerst gesehen.“ Zwinkern oder nicht, sie würde nicht nachgeben.
Er lachte. Seine Stimme klang wie geschmolzene Schokolade. „Ich mag Mädchen, die wissen, was sie wollen.“
Sie strahlte ihn an. Er mochte sie. Das hatte er sogar laut gesagt. „Ich bin Nina“, sagte sie.
„Greg. Besuchst du hier jemanden?“ Er sah sie so aufmerksam an, als wäre sie die einzige Person in dem ganzen großen Raum.
„Ja.“ Das war nicht gelogen. Sie verschwieg lediglich, dass sie die minderjährige Tochter der Campköchin war. Flüchtig überlegte sie, ob das seine Meinung über sie wohl ändern würde. Natürlich, beantwortete sie sich die Frage selber. Das war ja der ganze Grund, warum so was wie „soziale Schichten“ in den Vereinigten Staaten überhaupt existierten. Im Camp Kioga waren die Grenzen sehr scharf gezogen, die Snobs gegen die Proleten.
Aber wenn sie anonym blieb, gab es diese Linien nicht.
Sie spürte ein waches Interesse in der Art, wie Greg sie anschaute. Unbewusst richtete sie sich gerade auf. Nina hatte schon immer älter ausgesehen, als sie war. Das lag an der Kombination aus ihren dunklen, lebhaften Gesichtszügen und der körperlich frühen Entwicklung. Auch wenn sie damit gerne prahlte, war ihr Selbstbewusstsein doch nur eine Tarnung dafür, dass sie sich schon immer anders als andere gefühlt hatte. Nicht radikal anders, aber doch ein wenig, denn sie war ein Jahr älter als die anderen Kinder in ihrer Klasse.
Der Grund dafür war beschämend. Es lag nicht daran, dass sie langsam lernte oder früh sitzen geblieben war. Es lag daran, dass ihre Mutter vergessen hatte, sie rechtzeitig im Kindergarten anzumelden. Vergessen. Die Leute lächelten und nickten, wenn sie die Geschichte hörten, wie Vicki Romano vergessen hatte, ihr mittleres Kind in die Schule zu schicken. Das war vollkommen verständlich. Die Frau hatte neun Kinder, und die letzten beiden – zu kleine, kränkelnde Zwillingsjungen – erst wenige Wochen vor dem Termin zur Welt gebracht, an dem die kleine Nina mit dem Kindergarten hätte anfangen sollen. Das Denken der gesamten Familie hatte nur darum gekreist, ob die beiden Kleinen überleben würden, während Vicki gegen eine böse Infektion ankämpfte. Das Letzte, woran irgendwer gedacht hatte, war die stille, wohlerzogene fünf Jahre alte Nina. Niemand dachte daran, dass sie in die Schule gehen sollte, bis es zu spät war. Sie hatte ein Jahr warten müssen.
Das war eine der Lieblingsgeschichten ihrer Familie, vor allem, da sie ein Happy End hatte. Die winzigen Zwillinge – Donny und Vincent – waren inzwischen rauflustige Spieler in der Little League, und Nina war gemeinsam mit ihrer besten Freundin in einer Klasse. Alles hatte sich zum Guten gewendet.
Außer dass diese Erfahrung einen tiefgreifenderen Einfluss auf Nina hatte, als alle ahnten. Sie fühlte sich immer ein wenig aus dem Tritt, aus dem Rhythmus. Außerdem hatte sie sich von dem stillen, genügsamen mittleren Kind in jemanden verwandelt, der genau wusste, was er wollte, und es sich dann nahm. Ohne Ausnahme.
Mr Blue-Eyes Bellamy hielt den Teller immer noch auf einer Seite fest. Ihren Teller mit ihrem Kirschkuchen.
„Lässt du jetzt bitte los?“, forderte sie ihn heraus.
„Lass ihn uns teilen.“ Ohne auf ihre Zustimmung zu warten, entzog er ihr den Teller. Dann teilte er das Stück ordentlich in zwei Teile, legte eines davon auf einen sauberen Teller und reichte ihn ihr.
„Wow, danke“, sagte sie, nahm den Teller aber nicht.
„Gern geschehen.“ Entweder verstand er ihre Ironie nicht oder er ignorierte sie. Er ist ein Bellamy, sagte sie sich. Er beanspruchte für sich das „droit du seigneur“, das Recht des Herrschenden – ein Begriff, den sie aus den historischen Liebesromanen kannte, nach denen sie süchtig war.
„Du bist es gewohnt, deinen Willen durchzusetzen“, sagte sie und nahm schließlich doch den Teller mit dem halben Stück Kuchen. Mit Greg zu sprechen war irgendwie aufregend. Flirten war ihr immer schon leicht gefallen – ganz im Gegensatz zum Lernen.
Weil sie älter war als alle anderen in ihrer Klasse, wurde
Weitere Kostenlose Bücher