Bewegt Euch
Prioritätenliste steht Sport, dann lange nichts. Es folgt der Job, weil der Athlet ja von irgendwas leben muss. Die verbleibenden Minuten kommen der Familie zugute, sofern sich Partner und Kinder nicht längst verabschiedet haben von einem Menschen, der sein Leben im Tunnel führt.
Drei Marathonvorbereitungen genügten, um mir meine Willensgrenzen aufzuzeigen und meiner Familie zugleich das Leben zur Hölle zu machen. Auch wenn Vati morgens um sieben Uhr früh loswackelt, um seine 35 Trainingskilometer zu absolvieren und um elf Uhr dann endlich die Brötchen bringt, kann der Sonntag kaum noch gerettet werden. Das Trainingswrack ist für den Rest des Tages mit Essen, Schlafen und Krampfloswerden beschäftigt.
Die Idee, den armen Irren auf dem Rad zu begleiten, klingt zunächst praktisch, ist aber beim dritten Mal verschlissen. Selbst mit viel Eis sind die Kinder kaum dazu zu bewegen, ein weiteres Mal im Schneckentempo über langweilige Waldwege zu schleichen, um ihren Erzeuger eklige Körperflüssigkeiten absondern zu sehen. Außerdem wird es regnen. Bleibt die Option, den Sportsmann auf der Rückfahrt vom Oma-Besuch einfach auszusetzen, 30 Kilometer vor der Stadt. Ein guter Hund findet immer nach Hause; ein Marathon-Trainierender dagegen ruft an, sobald die Familie das Heim erreicht hat und klagt über Magenprobleme. Alle zurück ins Auto, Vati suchen.
Hardcore-Beweger wollen keinen Spaß, sondern Willen demonstrieren. Bewegen steht im Rang eines quasireligiösen Pflichterfüllens. You-cans verlassen Partys früh, weil sie nichts trinken und wegen der Verletzungsgefahr auch nicht tanzen. Sie nerven die Gäste mit langatmigen Heldengeschichten und Vordrängeln am Buffet. Sie referieren über die Wichtigkeit kohlehydratarmer Ernährung, stopfen aber meterweise Baguette in sich hinein. Ihre Dreiviertelhosen, die die rasierten Waden zur Geltung bringen sollen, sind in den seltensten Fällen hübsch anzuschauen, was auch an den Tattoos liegen mag, die oft martialische Parolen wie »Burn!« oder »Fight!« oder »Harder!« zeigen.
Den wenigen You-cans, die mit Ausdauer, Fleiß und einem beneidenswert robusten Körper unglaubliche Leistungen ohne größere psychische Deformation vollbracht haben, steht das Heer jener gegenüber, die gescheitert sind am Machbarkeitswahn. Dass mit diszipliniertem Selbst-Management für jeden ein Ironman zu schaffen sei, wird jede Alleinerziehende mit Teilzeitjob dementieren, zu Recht.
Wille allein genügt nicht. Die wahre Ressource heißt: Zeit zum Trainieren. Um drei Stunden Trainingszeit am Tag zu gewinnen, so rät die You-can-Fraktion, müsse man sich angeblich nur die Tagesrandzeiten freischaufeln, also jene Stunden, in denen andere Menschen schlafen, ins Kino gehen, mit ihren Kindern spielen oder gar mit dem Partner reden. Das Problem: Für all diese Aktivitäten hat der Trainierende keine Zeit.
Ich habe es versucht. Und ich gestehe: Planwahn klappt nicht bei mir. Ich will mein Leben nicht einer Work-move- Balance opfern, sondern will Freunde und Familie und mein geliebtes Trödeln weiterpflegen. Wille hin oder her, auch Supermans Tag hat nur vierundzwanzig Stunden. Wenn ich im Sommer nur einmal pro Woche dazu komme, um halb sechs morgens zu laufen, dann bin ich stolz wie Bolle. Tagtäglich würde ich diesen Frühsport nicht schaffen: Mal steht eine Dienstreise an, mal Stullen schmieren für die Kinder, und oft siegt auch die Lust, im Bett zu bleiben. Hätte ich einen You-can-Plan am Badezimmerspiegel kleben, wüchse mein schlechtes Gewissen schneller als jeder Muskel. Es gehört zu den wirklich angenehmen Charakterzügen meines Achims, dass wir diese Experimente einvernehmlich beendet haben.
Meine Wahrheit ist eine andere: Systematisches Bewegen, von gezieltem Training wollen wir gar nicht reden, bedeutet für einen berufstätigen Familienvater mit Freundeskreis nichts anderes als Chaos-Management. Das Zuverlässigste an meinem Leben ist das Unvorhergesehene. Mal ist das Rad platt, mal kränkelt das Kind, mal will ein Freund reden, mal ist die Steuer fällig.
Pläne ignorieren das richtige Leben. Deswegen habe ich mir angewöhnt, nie länger als drei Tage im Voraus meine Bewegungseinheiten und selbst Wettbewerbe festzulegen. Immer mit der Option, alles kurzfristig umzuwerfen. Wer genug macht, der darf auch mal lassen.
Natürlich nehme ich mir zu jedem Jahresbeginn einige Wettbewerbe vor, Heimspiele wie den wundervoll familiären Berliner Volkstriathlon zu Beginn der
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