Bewegt Euch
einen Tag lang ohne größere Folgeschäden durchhalten kann.
Die Zeit löst sich auf, wenn eine Gruppe aus zwei, drei Booten ebenso lautlos wie synchron über das Wasser gleitet. Was auf den ersten Blick relativ langweilig aussieht, ist in Wirklichkeit eine andauernde Konzentrationsaufgabe. Der Wind dreht, die Ebbe zieht, Nieselregen geht nieder. Der Körper bauchabwärts ist trocken, der obere Teil bleibt trotz der Nässe warm, weil die Bewegung dauerhaft heizt.
Fortgeschrittene Paddler setzen die Hüfte ein, um die Balance zu halten. Wie bei fernöstlichen Kampftechniken verlagert sich die Konzentration vom Kopf auf die Körpermitte, die das Kommando übernimmt. Das Zusammenspiel der Körperregionen ist eine ebenso faszinierende wie herausfordernde Beschäftigung für den notorisch untrainierten unteren Rücken des Büromenschen.
Die Tage mit Jim auf hoher See haben meiner kleinen Familie ein Stück kollektiver Erinnerung geschenkt. Immer mal wieder sagt einer von uns: »Wisst ihr noch, mit Jim im Kajak …« Und dann geht der gemeinsame Kopffilm los, von Abenteuer und sehr viel Einssein mit uns und der Welt.
Schau, schau, Schoschonen
Wir waren Mitte zwanzig, als wir das große Abenteuer suchten. Manche waren gerade in den Beruf gestartet, andere steckten in der Ausbildung, im Studium oder waren einfach nur desorientiert. Soeben war die Mauer gefallen. Das Internet gab es noch nicht mal im Film. Durch Zufall hatte ich herausgefunden, dass sich ein Sportstudent aus dem Westen am Südufer der Müritz mit einem Kanuverleih selbstständig machen wollte. Auf in den Wilden Osten. Wir wollten über Pfingsten das nahe unbekannte Mecklenburg-Vorpommern erkunden, vier Tage lang Indianer spielen, mit Zelten, Lagerfeuer, Paddeln.
Ein gutes Dutzend junger Leute war von Hamburg erst über die Transitautobahn und dann über Plattenwege von Mirow nach Ludorf gehoppelt. Ich hatte soeben meinen B-Kadett-Kombi gegen einen 123er Mercedes getauscht, Baujahr 1971. Die anderen fuhren ähnlich schrottige Karren. Wir kannten uns vom Handball, Eimsbütteler Turnverein. Es war meine künftige Gattin, die Zelten vorschlug und Paddeln. Ich nickte, ohne zu wissen, was sie genau meinte.
Als wir am vermeintlichen Bootsverleih ankamen, sahen wir eine klapprige Holzhütte und einen Anhänger mit acht nagelneuen Kanus, noch plastikumwickelt. Thomas, der Existenzgründer aus dem Ruhrgebiet, empfing uns euphorisch. Wir waren seine ersten Kunden.
Am nächsten Morgen war seine Begeisterung leicht abgekühlt. Wir hatten bis tief in die Nacht gelärmt, gejohlt, gegrillt und womöglich auch das ein oder andere Bier getrunken. So viel gute Laune wir mitgebracht hatten, so ahnungslos waren wir. Jens hatte im Bundeswehr-Outlet eine Multifunktionsplane erstanden, die angeblich Zelt und Regenponcho in einem sein sollte. Nach der ersten Nacht wusste er: Die NATO-Plane war nichts von beidem. Den anderen erging es nicht besser. Wir hatten Billigzelte, rostige Heringe, Schlafsäcke aus dem Besitz der Großeltern und Tonnen von Geschirr und Vorräten in guter Absicht ans Ufer des zweitgrößten deutschen Binnensees transportiert. Das meiste Zeug aber erwies sich als nicht abenteuertauglich: zu groß, zu schwer, nicht funktionsfähig. Egal.
Im Nieselregen luden wir die Boote so voll, dass schon leichte Wellen über die Bordwand schwappten. Die dunklen Wolken über dem Wasser empfanden wir als spannende Herausforderung. »Ihr müsst über den halben See und dann rechts in den Kanal«, erklärte Bootsverleiher Thomas und gab uns eine Wasserkarte mit. Sechs Boote stachen in See. Wir paddelten los wie die Irren. Nach einer halben Stunde waren alle am Ende. Das Ufer, an dem wir aufgebrochen waren, lag in Griffweite hinter uns. Selbst bei optimistischer Schätzung bräuchten wir bis zu den Sommerferien, um die Hälfte der Müritz zu schaffen. Aber keiner wagte, das Killerwort auszusprechen – »Umdrehen?«
Die ersten Tränen flossen, aber Hamburger Handballer ziehen durch. Wir bewegten uns vom offenen Wasser Richtung Ufer, wo Wellen und Wind sanfter waren. Unsere brennenden Arme, die wir vom Start weg in völlig sinnlosen Wettrennen strapaziert hatten, gaben uns einen ruhigen Takt vor. Wir wollten es schaffen, jedenfalls bis zu diesem elenden Kanal, Regen hin oder her. Und wir schafften es, auch wenn keiner mehr weiß, wie.
Dieser erste halbe Samstag 1990 begründete eine Tradition – die Kanutour. Jedes Jahr wieder finden sich die Leute von einst und viele
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