Bewegungswissenschaft
unbewusst speziellen Zentren des Hirns übermittelt werden. Dort entstehen, in Abhängigkeit von den individuellen Erfahrungen, spezifische psychologische Wahrnehmungen und Empfindungen .
Für die frühe Phase sportmotorischer Lernprozesse sind vor allem visuelle und verbale Informationen von Bedeutung. Im Verlauf des sportmotorischen Übens und Trainierens berücksichtigt der Sportler auf Grund der Ausdifferenzierung der Bewegungswahrnehmung vermehrt vestibuläre und kinästhetische Informationen. DieVerbesserung der Wahrnehmung der Bewegung betrifft die absolute Wahrnehmungsschwelle (Minimalschwelle, Sensibilität für sehr niedrige Reizintensitäten), die Differenzierungsschwelle (kleinster räumlicher oder zeitlicher Abstand ähnlicher Reize) und die zentralnervöse Integration verschiedener Sinneseindrücke. Beispielsweise verfügen sporttreibende Menschen über eine höhere Sensibilität für die eigene Muskelspannung als Nichtsportler. Athleten unterschiedlicher Sportarten zeigen besondere disziplinspezifische Wahrnehmungssensibilitäten: Schwimmer für das Vortriebsempfinden im Wasser, Schützen für kleinräumige Fingerbewegungen, Trampolinspringer für Körperdrehungen in der Luft oder Handballspieler für den Umgang mit verschiedenen Bällen (vgl. L OOSCH , 1999; G ABLER , 2000).
Das vorliegende Lehrbuch betrachtet die neurobiologischen Befunde (Lektionen 3 und 4) und die psychologischen Vorstellungen über die Bewegung, die Motorik und das motorische Lernen (Lektionen 5 und 6) weit gehend isoliert. Dies hat besondere Gründe. Bekannt ist einerseits, dass die neuroanatomisch-physiologischen Mechanismen und Funktionsprozesse sensorischer und zentralnervöser Systeme nicht eindeutig geklärt sind. Andererseits äußern sich psychologische Theorien der Bewegungskontrolle oder des motorischen Lernens nur ausgesprochen vage oder überhaupt nicht über die neuroanatomisch-physiologischen Korrelate.
1 Was ist von dieser Lektion zu erwarten?
Mit Lektion 3 folgt ein kurz gefasster Überblick über den Kenntnisstand der Biologie, der Kybernetik, der Medizin und der Bewegungswissenschaft des Sports hinsichtlich der sensorischen Komponenten der Motorik: Welche Grundideen der motorischen Kontrolle favorisiert die sportwissenschaftliche Bewegungsforschung? Wie funktioniert die Regelung menschlicher Willkürbewegungen? Auf welche Sinnesorgane greift die Bewegungskontrolle zurück? Wie nimmt der Mensch die vielfältigen Informationen aus der Umwelt und seinem Körper auf? Wie entstehen psychologische Wahrnehmungen?
Bevor Kapitel 3 die Schlüsselelemente kybernetischer Regelsysteme am Beispiel der Wasserstandsregelung in einem Toilettenspülkasten und der biologischen Regelung der Ellbogengelenkstellung erläutert, beschäftigt sich Kapitel 2 mit den Grundbegriffen der biologischen Kybernetik: Efferenzen, Efferenzkopie, Afferenzen, Afferenzsynthese, Reafferenzen, Bewegungssteuerung und Bewegungsregelung. Im Anschluss zeigt Kapitel 3 auf, wie aus unbewussten physiologischen Wahrnehmungen der peripheren Sinnesorgane im Zentralnervensystem bewusste psychologische Wahrnehmungen entstehen. Kapitel 4 beschreibt die anatomisch-physiologischen Grundlagen, Mechanismen und Funktionsprozesse der in die willkürliche Bewegungskontrolleeinbezogenen visuellen, akustischen, vestibulären und kinästhetischen Sinnesmodalitäten. Abschließend stellt Kapitel 5 nochmals die wesentlichen Erkenntnisse und Probleme der Bewegungsregelung zusammen.
2 Welche Begriffe sind grundlegend?
Die Kybernetik (griechisch kybernetes = Steuermann) setzt sich zum Ziel, die Übertragungs- und Kontrolleigenschaften technischer Systeme qualitativ und quantitativ zu beschreiben. Der wissenschaftliche Ausgangspunkt besteht in der Vorstellung, dass kybernetische Systeme ohne Einflussnahme höherer Kontrollinstanzen eine bekannten Störeinflüssen ausgesetzte Größe eigenständig konstant halten können (z. B. Wasserstand in Toilettenspülkästen, Tempomat in Kraftfahrzeugen, Autopilot in Verkehrsflugzeugen).
Die Biokybernetik geht von der Fähigkeit des Menschen aus, bewegungsrelevante Informationen aus der Umwelt und dem eigenen Körper durch spezialisierte sensorische Systeme aufzunehmen, zu bewussten psychologischen Wahrnehmungen und Empfindungen zu verarbeiten und in die Bewegungskoordination einzubeziehen. Das Forschungsinteresse richtet sich auf die an der Bewegungskontrolle beteiligten Umweltreize, Sinnesorgane und körperinternen Funktionsprozesse
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