Beweislast
hinter Stacheldraht, Gitter und dicken Mauern eingesperrt war. Sie hatte ihm einen langen Brief geschrieben, ihm versichert, dass sie alle zu ihm halten würden, egal, was geschehe. Noch am Heiligen Abend war eine Antwort gekommen, handgeschrieben und auf billigem Papier. Neun Seiten. Gerhard hatte sich alles von der Seele geschrieben, was ihn bedrückte. Monika hatte sich beim Lesen mehrfach die Tränen aus den Augen wischen müssen. »Wenn es eine Gerechtigkeit gibt, eine höhere Macht oder Gott oder wen auch immer«, hatte er zum Schluss geschrieben, »dann werden wir bald wieder zusammen sein. Ich bete dafür.« Solche Worte waren nie über seine Lippen gekommen. Sie las den Brief immer wieder – auch jetzt, am Heiligen Abend. Chrissi hatte echt schwäbische Maultaschen zubereitet, doch keinem von ihnen mochten sie so recht schmecken. Auch Manuel stocherte lustlos auf seinem Teller herum. Im Radio war das Weihnachtslied von ›Rudolf, dem Rentier‹ zu hören. Auf einen Christbaum hatten sie verzichtet und stattdessen einige Kerzen angezündet.
»Warst du schon mal dort, am Heiligen Abend?«, fragte Monika plötzlich und kämpfte wieder mit den Tränen. Ihre Augen waren dick verschwollen. Manuel wusste, dass sie jetzt von ihm eine Antwort erwartete – und dass die Haftanstalt gemeint war. »Nein, am Heiligen Abend noch nicht«, erwiderte er leise, »aber sie machen irgendwas Gemeinsames.«
»Gemeinsam?«, zeigte sich seine Schwiegermutter verwundert. »Sie sind jetzt also nicht in ihre Zellen gesperrt?«
Manuel war es irgendwie peinlich, dass er keine konkrete Aussage machen konnte. Nie zuvor war er so emotional von einem Fall berührt gewesen. Er flüchtete sich in allgemeine Bemerkungen, um die beiden Frauen nicht noch mehr aufzuwühlen. Wenn er ehrlich war, dann musste er sich eingestehen, dass er sich bisher viel zu wenig Gedanken über die Situation der Häftlinge gemacht hatte. Plötzlich ertappte er sich dabei, wie irgendwo im Hinterkopf offenbar meist der Verdacht mitgeschwungen war, dass sich die Gefangenen durch eigenes Zutun in diese Lage gebracht hatten. Dabei sollte doch gerade er von den Unschuldsbeteuerungen eines Mandanten überzeugt sein – zumal ein Untersuchungshäftling ohnehin so lange als unschuldig zu gelten hatte, bis das Urteil rechtskräftig war. Aber wer nur ein einziges Mal diese Zellen gesehen hatte, diese Enge, diese Kälte, dem fiel der Glaube daran schwer, dass der Staat diese Menschen als Unschuldige betrachtete. Wer hier landete, dem war zumindest ein großes Recht schon abgesprochen: die Freiheit.
Und Gerhard? War er einer von denen, die unschuldig in die Fänge der Justiz geraten waren? Wie musste es in so einem Menschen aussehen, der den Heiligen Abend im Gefängnis verbringen musste, obwohl er nichts Unrechtes getan hatte?
»Was denkst du jetzt?« Es war die Stimme seiner Frau, die ihn abrupt aus seinen Grübeleien riss.
»Dass wir … für ihn beten sollten.« Er schluckte und kämpfte mit den Tränen. »Heute, an Weihnachten.«
August Häberle hatte geruhsame Weihnachtstage erlebt: wandern auf der traumhaft verschneiten Albhochfläche, Familienbesuche, gutes Essen. Nur dieser Mordfall wollte ihm nicht aus dem Kopf. Eigentlich hätte er sich zufrieden zurücklehnen können, nachdem noch rechtzeitig vor den Feiertagen der mutmaßliche Täter festgenommen worden war. Doch was ihm die Kollegen zu bedenken gegeben hatten, das meldete sich in seinen Gedanken immer wieder zu Wort.
Häberle hatte deshalb gleich nach Weihnachten mit seinem direkten Vorgesetzten Helmut Bruhn sprechen wollen. Der aber war darüber wenig erbaut gewesen. »Die Sache ist vom Tisch«, hatte er kurz und knapp entschieden, »von meiner Seite aus ist alles klar. Und auch der Ziegler hat keinen weiteren Ermittlungsbedarf angemahnt.«
Häberle wusste aus Erfahrung, dass es keinerlei Sinn machte, dem Chef zu widersprechen – schon gar nicht in dieser Zeit zwischen den Feiertagen, wenn er sich durch jede Störung persönlich beleidigt fühlte.
Für einen Moment überlegte der Ermittler, ob er dem Leiter der Ulmer Staatsanwaltschaft selbst seine Bedenken vortragen sollte. Dann verwarf er aber diesen Gedanken wieder, denn er wollte zuerst Fakten vorweisen können. Nachdem jedoch die Sonderkommission aufgelöst war und sich die Kollegen wieder dem Tagesgeschäft widmen mussten, war es gar nicht mehr so einfach, nebenher aufwendige Recherchen anzustellen. Der junge Kollege Mike Linkohr tat seinen
Weitere Kostenlose Bücher