Beweislast
jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen, wie er seine Arbeitszeit einteilte. Ohne die Besserwisser der oberen Etagen. Aber jetzt, so erkannte Linkohr plötzlich, jetzt dachte er schon wie Häberle.
Als er eines Abends eine der letzten Fotokopien betrachtete, stutzte er. Das Original musste sehr schlecht belichtet und überdies unscharf sein. Es zeigte ein landwirtschaftliches Anwesen, das offenbar von einer höheren Perspektive aus aufgenommen worden war – von einem Versteck am Hang, der sofort hinter den Gebäuden anzusteigen schien. Eine Ansicht also, die sich nur einem Wanderer bieten würde. Linkohr drehte das Papier und stellte sich vor, wie die Hofstelle wohl von der Zufahrtsstraße her aussah. Der Asphaltweg, die leichte Kurve, da unten ein Abzweig. Und hier, abseits der steilen Dächer der Stallungen ein neu gebauter Schuppen – oder so etwas Ähnliches. Linkohr vertiefte sich in Details, die auf der Kopie aber nur mühsam zu erkennen waren. Dann aber beugte er sich tief über das Blatt und rekonstruierte noch einmal, was ihm soeben aufgefallen war.
Juliane, die sich in ihrem Sessel in ein Buch über Notfallmedizin vertieft hatte, schaute gespannt zu ihm herüber. »Sag mal, was ist denn mit dir los?«, hörte er sie sagen. Ohne aufzublicken, antwortete er: »Das ist unglaublich.« Um nach kurzer Pause hinzuzufügen: »Da hauts dirs Blech weg.« Sein Ausdruck allerhöchsten Erstaunens. Es tat ihm auch gleich wieder leid, ihn gebraucht zu haben. Denn Juliane war sich sicher gewesen, dass er diesen albernen Spruch nicht mehr benutzen würde.
Aber hier war er angebracht. Wenn nicht jetzt, wann denn dann?
Es war Weihnachten und es war Silvester gewesen. Draußen fiel Schnee und die Dächer der Wohnhäuser, in denen freie Menschen wohnten, feierten und sich liebten, waren weiß geworden. Nur dreißig Meter Luftlinie trennten ihn – doch der Weg dorthin blieb unerreichbar. Wenn er im Innenhof seine Runden ging, einmal täglich, um frische Luft zu schnappen, dann bekam er zu spüren, wie klein seine Welt geworden war. Ein paar Schritte rüber, ein paar Schritte zurück. Hoch aufragend die Gebäude mit den vergitterten Fenstern, drüber ein Stück Horizont. Und wenn keine Wolken- oder Nebelschicht über Ulm hing, was in diesen Tagen selten vorkam, dann schaffte es die tief stehende Wintersonne nur ganz knapp, über die Dächer zu scheinen.
Ketschmar redete kaum etwas. Die Männer um ihn herum entsprachen nicht seinem Niveau. Bei ihnen ging es um Gewalt und Drogen, um Zeugen, die man erpressen wollte, und um Rachegelüste. Inzwischen war es ihm wenigstens gelungen, mit seinen Zellengenossen Frieden zu schließen. Das heißt, er hatte sich untergeordnet und verkroch sich meistens in sein Rattenloch, wie er die untere Liege des Etagenbetts bezeichnete.
Dass er tagsüber in der Schreinerwerkstatt arbeiten konnte, hatte Manuel für ihn organisiert. Das war zwar eine stupide Tätigkeit, doch kam er dabei wenigstens mit anderen Männern zusammen – und auch der Aufseher schien ein zugänglicher Typ zu sein. Die Tage verstrichen nutzlos und unendlich langsam. Wie schnell war draußen, als er noch gearbeitet hatte, eine Woche vorbei gewesen! Wie oft hatte er sich gewünscht, einmal keinen Termin mehr zu haben. Doch jetzt, in dieser Aufbewahrungsstation, krochen die Stunden dahin. Er verdrängte den Gedanken an das Urteil: lebenslänglich, das ihm seine Zellengenossen immer wieder hämisch vorhielten. Ihnen schien es auf sadistische Weise Freude zu bereiten, ihn immer wieder an die drohende Höchststrafe zu erinnern.
Als er eines Abends zum wiederholten Male die Anklageschrift las, Wort für Wort und jeden Hinweis auf Paragrafen, da entriss ihm der Tankstellenräuber das mehrseitige Schreiben, um sich theatralisch vor ihm aufzubauen und die entscheidenden Sätze zu rezitieren: »… ein Verbrechen des Mordes … nach Paragraf 211 StGB.« Der widerliche Kerl sah die beiden anderen an, die auf ihren Liegen saßen, und grinste Ketschmar an: »Junge, Paragraf 211. Da ist dein Urteil schon gesprochen. Du wirst für den Rest deines Lebens nach Heimsheim umziehen. Oder nach Stammheim. Du brauchst dich nicht mehr um ›Hartz IV‹ zu kümmern oder«, er lachte laut auf, »oder dass du bis 67 arbeiten musst, um Rente zu kriegen.«
Ketschmar standen die Tränen in den Augen. Monika hatte wieder einen langen Brief geschrieben, ohne aber ein Wort darüber zu erwähnen, dass sie inzwischen vom Ersparten leben musste. Er
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