Beweislast
Bauleiter ist. Am Schweinestallprojekt da draußen.«
Und Speckinger ergänzte: »Wo einer versucht hat, den Bürocontainer abzufackeln.«
»Ach?« Häberles Staunen war nicht zu überhören.
»Dann gibt es noch weitere Punkte«, fuhr Linkohr eifrig fort, »was in Grauers geschäftlichem Computer drin ist, wurde bisher nicht geprüft. Die DNA-Analyse hat einfach alles überschattet …«
»Sie ist auch schwerlich zu umgehen«, wandte Häberle vorsichtig ein. »Und denken Sie an die Drohbriefe.«
»Unstrittig«, erwiderte Linkohr, »aber bei genauerem Nachdenken fallen halt ein paar Dinge auf. Da ist dann noch dieser Lacksplitter …«
»Und?«, wollte Häberle wissen. Ihm fiel plötzlich ein, dass bisher keine chemische Analyse der Kriminaltechnik vorlag.
»Wir haben nachgehakt«, erklärte Linkohr, »dieser Lacksplitter an Grauers Hose stammt tatsächlich von einem Auto, jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit.« Er wühlte in seinen Papieren. »Demnach gehört er zu einem VW-Golf der ersten Generation.«
»Eine uralte Kiste also«, kommentierte Speckinger, »eine von den Rostkübeln. Damals hatte Volkswagen erhebliche Probleme mit dem Blech. Ist bereits in der Presse gerostet. Baujahr 73 oder so.«
»Aber wenn ich mich richtig entsinne«, wandte Häberle ein, »dann haben die Kollegen doch schon anfangs gesagt, dass so ein winziger Lacksplitter auch anderweitig an die Hose gekommen sein kann – besonders, wenn einer, wie Grauer, dauernd auf Baustellen rumlungert.«
Traknows Haftbeschwerde hatte keinen Erfolg. Auch kurz vor Weihnachten war der zuständige Amtsrichter nicht dazu zu bewegen gewesen, Ketschmar freizulassen. Die Beweislast sei eindeutig, argumentierte der Jurist. Außerdem bestehe Verdunklungsgefahr und angesichts der drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe auch die berechtigte Befürchtung, der Beschuldigte könnte sich durch Flucht einem Prozess entziehen. Es war sachlich formuliert und nicht zu beanstanden, musste sich der Anwalt eingestehen. Trotzdem las er das Dokument, das ihm in sein Büro in der Ulmer Kanzlei zugestellt worden war, noch ein zweites und drittes Mal. Wie sollte er dies Chrissi und seiner Schwiegermutter beibringen? Jetzt, vor dem Fest der Liebe. Und wie würde sein Schwiegervater diese niederschmetternde Nachricht aufnehmen? Weihnachten im Gefängnis. Was half es da, wenn sie in der Haftanstalt einen Weihnachtsbaum aufstellten, ein Pfarrer optimistische Worte zur Bedeutung der Geburt Jesu sprach und vielleicht ein Gesangverein kam, um Lieder zu singen – um den grauen Alltag hinter Gefängnismauern ein bisschen zu erhellen, wie nach solchen Anlässen oftmals in den Zeitungen zu lesen war.
Wenn die Familien am Heiligen Abend zusammensaßen, die Kinder beschenkt wurden – wenn man zur Kirche ging und sentimental wurde, dann war Gerhard Ketschmar von allem ausgeschlossen und abgegrenzt. Zusammen mit Schwerverbrechern, deren Hackordnung er bereits am ersten Tag kennengelernt hatte. Um wie viel schlimmer musste dies alles sein, wenn man unschuldig war? Wenn man herausgerissen wurde aus dem bürgerlichen Leben, das einem so viel bedeutet hatte? Wenn man eingesperrt war, ohne direkt und persönlich auf den Lauf der Dinge Einfluss nehmen zu können? Wenn sie draußen alle über ihn bestimmten, Schriftsätze ersannen und ihn zu einem Aktenzeichen machten?
Traknow versuchte vergeblich, solche Gedanken zu verdrängen. Wäre Ketschmar schuldig, gäbe es zumindest eine moralische Rechtfertigung für die Inhaftierung. Der junge Anwalt erschrak über sich selbst, dass ihm so ein Gedanke überhaupt kommen konnte. Für ihn war, ja musste sein Schwiegervater unschuldig sein. Und wenn stimmte, was dieser beteuerte, dann war es dramatisch und menschenunwürdig, ihn an Weihnachten wegzusperren. Traknow spürte plötzlich, welch große Verantwortung auf ihm lastete. Er war der Einzige, der helfen konnte. Das hatten ihm die beiden Frauen zwar schon tausendmal gesagt – aber jetzt, nachdem er das Schriftstück des Haftrichters vor sich liegen hatte, wurde ihm dieser Erfolgsdruck, der auf ihm lastete, erst richtig bewusst. Es konnte doch gar nichts anderes geben als einen Freispruch. Denn nur dann gabs ein Leben danach.
Monika Ketschmar war über die Feiertage in die Einliegerwohnung nach Ulm gezogen. Sie hätte es psychisch nicht verkraftet, allein im Haus in Donzdorf zu bleiben. Außerdem spürte sie in Ulm wenigstens die räumliche Nähe zu Gerhard, der irgendwo dort unten
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