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Beweislast

Beweislast

Titel: Beweislast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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kalte Metall anlegen. Der Schließmechanismus rastete ein. Er schauderte.
    »Auf«, befahl der Zweite und ging voraus. Sie schritten durch den langen Gang, in dem rechts Fenster in den tristen Innenhof zeigten. Links reihte sich Zellentür an Zellentür.
    Ketschmar hatte den Blick gesenkt, als sie ins Untergeschoss stiegen, wo ein Verbindungsgang unter der Straße hindurch, die ›Frauengraben‹ hieß, zum Landgericht hinüberführte. Vor zwei Jahrzehnten war diese unterirdische Anknüpfung gebaut worden, weil sich immer wieder Häftlinge auf dem Weg zwischen Anstalt und Gericht losgerissen hatten.
    Manuel hatte davon erzählt und seinen Schwiegervater auf den Ablauf des ersten Prozesstages vorbereitet. Genau wie von Manuel geschildert, wurde er im Gerichtsgebäude über einen Aufzug ins zweite Obergeschoss gebracht. Dort gab es einen weiß getünchten Raum, von dem mehr als die Hälfte mit einem Verschlag aus Gitterstäben abgeteilt war, in dem ein kleiner Tisch und ein Holzstuhl standen. Ketschmar erinnerte dies auf den ersten Blick an einen Käfig. Die Vollzugsbeamten öffneten die Gittertür. »Rein«, sagte einer von ihnen und deutete mit einer Kopfbewegung an, was er zu tun hatte. Willenlos gehorchte er. Zwei Schritte nur und er war eingesperrt in einem Käfig. Hinter ihm fiel metallisch scheppernd die Tür ins Schloss und wurde verriegelt. Ein Geräusch, das ihm nie mehr aus den Ohren gehen würde. Immer Schlüssel, Riegel, Scheppern.
    »Sie werden abgeholt«, hörte er die Stimme eines der Beamten, die den Raum verließen und auch die äußere Tür verschlossen.
    Ketschmar blieb für ein paar Momente reglos stehen. Alles schien ihm wie ein Film abzulaufen. Ein Film, in dem er die Hauptrolle spielte, aber keinen Einfluss auf das Drehbuch hatte. Er umfasste die kalten Gitterstäbe, schloss die Augen und fühlte sich so elend wie nie zuvor. Erst jetzt sah er die zweite Tür. Das war sie wohl – die Tür zum Schicksal. Hinein in den Schwurgerichtssaal, den ihm Manuel geschildert hatte. Groß sei er, mit vielen Zuschauerplätzen. Wie im Theater.
    Ketschmar spürte schon wieder diesen Harndrang.
    Er schaute auf seine Armbanduhr: 8.15 Uhr. Noch eine Viertelstunde. Manuel wollte doch noch mit ihm reden. Warum kam er denn nicht?
     
    Das Gebäude des Ulmer Landgerichts ist im Stil des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts erbaut: lang gestreckt, mit ebenso langen und hellhörigen Gängen. Auf der einen Seite eine Fensterflucht hinüber zur tristen Haftanstalt, auf der anderen reihten sich die Büros aneinander. In der Mitte der Haupteingang, den eine breite Treppe markierte, an der beiderseits mächtige Steinlöwen lagen – und über allem erhob sich Justizia mit ihrer Waagschale.
    Der Schwurgerichtssaal im Obergeschoss mochte nicht so recht zu diesem Stil passen: das Mobiliar zweckmäßig und nüchtern, ganz im Stil der Jahrtausendwende, ein grauer Teppichboden mit unruhigen Mustern, abgehängte Beleuchtungskörper über Richter-, Anwalts- und Staatsanwaltstischen. Vor den riesigen Fenstern dämpften schwere Vorhänge, die auch zur schlechten Akustik beitrugen, das Tageslicht. Wenn draußen die Sonne schien, warf diese Seite des Gebäudes seinen Schatten nach Norden. Die Angeklagten bekamen bereits einen Eindruck davon, was es bedeutete, auf der Schattenseite zu stehen.
    Unter die kunstvoll verzierte hohe Decke war irgendwann in den 60er Jahren eine Billigkonstruktion eingezogen worden, um den Saal niederer, insbesondere aber moderner erscheinen zu lassen. In dieser Zeit hatten wohl auch die Wände ihre großflächige Holzvertäfelung erhalten, vor allem aber Türen, die als solche nicht zu erkennen waren. Ganze Generationen von Zeugen suchten nach ihrer Vernehmung verzweifelt den Ausgang, der nur an einer vorgehängten Holzleiste zu erkennen war. Und es hatte auch nichts geholfen, dass irgendwann ein Schild mit der Aufschrift ›Ausgang‹ montiert worden war.
    Diese Haupteingangstür stand offen, als Staatsanwalt Franz Bändele mit schwarzem Aktenkoffer und dem Talar im Arm seinem Platz auf der gegenüberliegenden Seite zustrebte. Die gepolsterten Zuhörersitze, die rund ein Dutzend Reihen bildeten, waren nur vereinzelt besetzt. Mit einem flüchtigen Blick erkannte Bändele einige Dauergäste, meist Rentner, die sich keine Schwurgerichtsverhandlung entgehen ließen.
    Draußen auf dem Flur, in den hier die zweigeteilte von unten heraufkommende Treppe mündete, lehnten noch annähernd zehn Personen an der steinernen

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