Beweislast
Balustrade. Bändele hatte zwei, drei Pressevertreter erkannt, die auch den vorderen Eingang benutzen durften. Das übrige Publikum musste durch die hintere Tür gehen. Seit geraumer Zeit war der Zuhörerraum aus Sicherheitsgründen mit einem kniehohen Klapptürchen zumindest optisch vom vorderen Teil abgegrenzt.
Manuel Traknow eilte an den Besuchern vorbei, ließ sich gleich links des Eingangs auf dem Anwaltsplatz nieder, stellte seine Akten ab und ging zum Staatsanwalt hinüber, um ihn per Handschlag zu begrüßen. Ein paar belanglose Worte, mehr nicht.
Dann wandte er sich an einen der Justizbeamten, die in der ersten Reihe saßen, und ließ sich von ihm zu seinem Mandanten bringen. Sein Anliegen wurde sofort erfüllt. Er folgte dem Uniformierten an der ersten Sitzreihe entlang zur Fensterfront, wo ein schmaler, durch Panzerglas geschützter Gang nach hinten zu einer Tür führte. Zum Käfig, wie Traknow jedes Mal denken musste, wenn er einen Schwerverbrecher verteidigte.
Er versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen. Denn dort saß jetzt kein Schwerverbrecher, sondern sein Schwiegervater.
Der Beamte schloss die Tür auf und ließ den Anwalt eintreten. Traknow erschrak, als er den Mann sah, der in sich zusammengesunken am Tisch kauerte, den Oberkörper nach vorne geneigt. Der Anwalt hatte hier schon viele Schicksale erlebt. Aber dieses hier setzte ihm zu. Ihm fehlten einfach die Worte.
Ketschmar hatte darum gebeten, dass Monika und Chrissi nicht im Saal sein sollten. Er wollte nicht, dass sie ihn leiden sahen. Dass sie sahen, wie sie ihn erniedrigten. Es reichte, wenn Zuschauer da sein würden, die sich an seinen Problemen ergötzten, die diesen Prozess wie einen amüsanten Kriminalfilm erleben wollten. Eine Livevorstellung des Schicksals. Er hatte sich vorgenommen, überhaupt nicht ins Publikum zu schauen. Was mochte diese Menschen dazu veranlassen, diesen Prozess mitzuerleben? Doch nicht Mitleid. Doch nicht das Interesse an einem fairen Prozess. Sicher nicht. Es war die Sensationsgier, die sie trieb. Ein bisschen Gruseln, ein bisschen etwas von jenem Gefühl spüren, das einen selbst hoffentlich niemals ernsthaft umgeben würde. Sie kamen, um einen Mörder zu sehen. Es konnte gar nicht anders sein. Denn, wen die Justiz öffentlich anprangerte, der musste ein Mörder sein. Und sie hatten ja alles getan – oder besser gesagt: unterlassen, um die entsprechenden Beweise zusammenzutragen. Ketschmar hatte nächtelang darüber gegrübelt, hatte viele Seiten Papier voll geschrieben, von Hand und mit Bleistift – und sich vorgenommen, eine umfangreiche Stellungnahme abzugeben. Aber wollten sie das hören? Die Richter und die Schöffen, denen dies doch alles eher lästig sein würde? Wollten sie nicht einfach zu einem schnellen Schuldspruch kommen? Was immer Manuel im feinsten Juristendeutsch geschrieben hatte, es war auf taube Ohren gestoßen. Alles schien so logisch zueinander zu passen. Spätestens seit ihm der Psychiater Jähzorn bescheinigt hatte, verbunden mit der fehlenden Einsicht, sich dem Schicksal der Arbeitslosigkeit hinzugeben, da war das Urteil gesprochen. Sie würden ihn nicht mehr rauslassen. Nie wieder. Und wenn sie ihn nach 15 Jahren laufen ließen, dann nur mit strengen Bewährungsauflagen. Dann war er 70 und würde nie mehr richtig frei sein können.
50
Sie hatten tatsächlich im Saal auf Fesseln verzichtet. Ketschmar war in Begleitung zweier uniformierter Beamten der Haftanstalt an seinen Platz geführt worden – links des Richtertisches, wo er vor der Holz vertäfelten Wand neben Manuel Platz nehmen durfte. Er hatte den Blick gesenkt gehalten und den Zuschauerraum ignoriert. Wie viele Augenpaare an ihm hingen, vermochte er nur zu schätzen. Vermutlich waren es knapp 20 Personen, die dort Platz genommen hatten. Ketschmar drehte seinen Stuhl leicht zur Seite, um gleich gar nicht in die Versuchung zu kommen, die Zuschauer anzublicken. Er öffnete seinen Schnellhefter und blätterte darin, ohne auch nur ein Wort zu lesen.
Manuel hatte bereits mehrere Akten vor sich ausgebreitet. Der Staatsanwalt, der vor der gegenüberliegenden Fensterfront saß, war hingegen in eine Tageszeitung vertieft, die blonde Protokollführerin an der Stirnseite des Richtertisches startete ihr Computerprogramm.
Erst jetzt bemerkte Ketschmar den glatzköpfigen Mann, der an einem Tisch Platz genommen hatte, der vor jenem des Staatsanwalts stand. Es war der Psychiater. Ketschmar spürte, wie sein Puls zu rasen
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