Beweislast
begann. Dieser Mann hatte ein Gutachten verfasst, das ihn zum Mörder abstempelte. Er konnte den Blick nicht mehr von ihm wenden. Was war in ihm vorgegangen, um zu diesem Ergebnis kommen zu können? Niemals würde er sich gegen die geschliffenen Argumente eines medizinischen Sachverständigen wehren können. Niemals. Dieser Kerl hatte wochenlang Zeit gehabt, sich – ausgerüstet mit Textbausteinen – ein Gutachten zurechtzuzimmern, dem er als Angeklagter und Laie nichts entgegensetzen konnte. Es waren doch nicht die Richter, die letztlich einsperrten, sondern diese ›Götter in Weiß‹, wie die Sachverständigen oftmals genannt wurden. Diese Professoren und Doktoren, die allesamt auf ihre eigenen Theorien und angeblichen Erfahrungen pochten und doch nur darauf bedacht waren, niemals ihr Gesicht zu verlieren. Was sie sagten und behaupteten, war das Evangelium. Kein Richter würde es wagen, sich fundierten wissenschaftlichen Aussagen zu widersetzen. Ketschmar hatte in den vergangenen Wochen viel darüber gelesen. Und auch wenn Manuel dazu eine etwas andere Meinung hatte, es war eben doch so, dass solche Sachverständige ein sehr gewichtiges Wort mitzureden hatten.
Ketschmar konnte sich nur schwer an all das entsinnen, was ihm Manuel in den vielen Vorgesprächen erzählt hatte.
Die Stille lag jetzt wie ein drohender Vorbote auf die schicksalshaften Entscheidungen im Raum. Niemand wagte etwas zu sagen. Kein Flüstern, kein Räuspern. Von der Straße drang nur gedämpfter Verkehrslärm herauf.
Dann die Tür. Ein kurzes Klicken und da waren sie: Die fünf Personen, die ihn für immer einsperren konnten.
Aufstehen. Zuerst die Schöffin, dann die schwarz gekleideten Richter, unter ihnen eine Frau, und zum Schluss der zweite Schöffe. In dieser Reihenfolge nahmen sie an der Stirnseite des Saales auf der Richterbank Platz. Auch die Zuhörer und die übrigen Beteiligten setzten sich. Der Vorsitzende, ein schlanker Mann, dessen Alter Ketschmar auch auf Mitte 50 taxierte, blickte in die Runde, erklärte, dass alle Beteiligten anwesend seien und stellte die Schwurgerichtskammer namentlich vor. Ketschmar war viel zu aufgeregt, als dass er sich die Namen hätte alle merken können. Nur zwei blieben ihm haften, zumal sie Manuel bereits genannt hatte: Der Vorsitzende hieß Berthold Muckenhans, der zweite Berufsrichter war Elmar Friesenmeiler.
»Sie sind Herr Ketschmar?«, fragte Muckenhans unerwartet schnell in Richtung des Angeklagten. Ketschmar spürte einen trockenen Kloß im Hals. Sein »Ja« erstickte.
Der Richter machte gelassen weiter. »Dann zu Ihren Personalien. Sie heißen Ketschmar … Vorname?«
»Gerhard.«
»Sie haben noch einen zweiten Vornamen?«
»Heinrich, ja, Gerhard Heinrich Ketschmar.«
»Wann und wo geboren?«
»Fünfter Mai 1951 in Bad Cannstatt.«
»Sie sind verheiratet?«
»Ja, verheiratet, eine Tochter.«
»Von Beruf sind Sie Bauingenieur.«
»Gelernt,ja«, bestätigte Ketschmar, »aber arbeitslos, seit einem Jahr. Unverschuldet, es war …«
»Auf Ihre persönlichen Verhältnisse kommen wir später zu sprechen«, unterbrach Muckenhans sachlich, um sich gleich förmlich an die Runde zu wenden: »Noch Fragen zu den kleinen Personalien?«
Die beiden anderen Richter und die Schöffen schüttelten die Köpfe, Staatsanwalt Franz Bändele und Verteidiger Manuel Traknow ebenfalls.
»Dann bitte ich den Herrn Staatsanwalt um die Anklage.«
Der Staatsanwalt strich sich über den graumelierten Vollbart, erhob sich und nahm theatralisch sein Blatt in die Hand. »Gerhard Heinrich Ketschmar wird angeklagt, er habe in einer rechtlich selbstständigen Handlung …«
Ketschmar kannte den Text nahezu auswendig. So oft hatte er die Anklageschrift in den vergangenen Tagen gelesen. Sie hatten hieb- und stichfest aufgelistet, was sie ihm vorwarfen. Mord. Paragraf 211 Strafgesetzbuch. Die juristischen Formulierungen, die er alle nicht verstand, rauschten an seinem Ohr vorbei, als kämen sie von einer CD. Erst als sich die monotone Stimme des Staatsanwalts änderte, begann Ketschmar wieder aufzuhorchen. »Die Staatsanwaltschaft geht von folgendem Sachverhalt aus«, Franz Bändele holte tief Luft und versuchte, seiner Stimme einen bedrohlichen Unterton zu geben. »Gerhard Heinrich Ketschmar hat am Vormittag des 18. November 2005 den später getöteten Friedbert Grauer an dessen Arbeitsplatz in der Agentur für Arbeit in Göppingen aufgesucht, um sich routinemäßig über den Stellenmarkt zu informieren.
Weitere Kostenlose Bücher